
Die ehrlichste Band der Welt im Zombie-Check
Keine große Liebesgeschichte
Das Problem mit toten Bands
Tote Bands sind wie Ex-Freundinnen: Man erinnert sich nur an das Gute, vergißt den ganzen Dreck drumherum und macht aus drei betrunkenen Nächten eine große Liebesgeschichte. Die HEILIGEN SCHEINE waren keine große Liebesgeschichte. Sie waren ein One-Night-Stand, bei dem alle Beteiligten wußten, daß es scheiße ist, aber trotzdem weitermachten, weil’s besser war als alleine zu Hause zu sitzen.
Jetzt, über zwanzig Jahre später, kramt Karl Nagel die alten Aufnahmen raus und hübscht sie auf. Warum? Weil die Miete fällig ist? Weil die 3. Midlife-Crisis zuschlägt? Oder weil er endlich verstanden hat, daß die SCHEINE das Ehrlichste waren, was er je gemacht hat - gerade WEIL sie verlogen waren?
Die Geburt eines Monsters
Hamburg, 2000. Karl Nagel saß in seiner Bude und wußte: Ende Gelände. Zwei Jahre zuvor war er noch als ‘Kanzlerkandidat’ der APPD angetreten, hatte den ganzen Zirkus mitgemacht bis zum Abwinken - und sich schon 1999 in die Büsche geschlagen. Schnauze voll. Dann die Chaostage 2000zur EXPO in Hannover - nochmal die Zähne zusammengebissen, getrommelt wie verrückt. Aber Politik, Medien und Polizei hatten dazugelernt: Sie behaupteten einfach: Chaostage? Die fallen diesmal aus! Und die dusseligen Punks? Haben’s geglaubt. Ok, ein paar Hundert kamen, aber die Medien schwiegen sie tot.
Die ultimative Niederlage für einen, der jahrelang besser gelogen hatte als die Gegenseite. Jetzt saß er da, 39 Jahre alt, und hatte alles versucht - Politik, Musik, Subversion. War daran gescheitert. Die Hosen und Onkelz hatten sich rechtzeitig in gutlaufende Unternehmen verwandelt. Karl hingegen hatte sich immer nur selbst sabotiert.
In diesem Moment rief Andy Berger an, Ein Geldsack und Manager, der Punk wie eine Excel-Tabelle behandelte und seine “Punk-Weltformel”präsentierte. Spalte A: Hosen-Gemütlichkeit. Spalte B: Onkelz-Pathos.Spalte C: Kassierer-Wahnsinn. Unten kommt raus: Profit.
Karl sagte ja. Nicht weil er dran glaubte, sondern weil er nichts mehr zu verlieren hatte außer seiner Selbstachtung - und die war über die Jahre mächtig unter die Räder gekommen.
Die Musik-Maschine
Und das kam dabei raus 26 Songs in 15 Monaten, 89 Auftritte. Das war keine Band, das war eine Fabrik. Ford hätte seine Freude gehabt: Fließbandproduktion von Emotionen.
“Wir sind wir” - eine Tautologie als Hymne. Genial in ihrer Dummheit. Man kann nicht widersprechen, weil’s nichts zu widersprechen gibt.
“Fans sind Sklaven” - und die Idioten haben’s mitgesungen. Mit erhobenen Fäusten. Das ist wie wenn Schweine im Schlachthof “Mehr Messer!” skandieren würden.
“Niemals” - ein Song, der nur aus geklauten Filmtiteln besteht. Selbst der Schmerz war second-hand. Aber die Leute haben geweint dabei. GEWEINT!
Der perfekte Betrug
Das Geniale an den SCHEINEN war: Sie haben nie gelogen. Sie sagten von Anfang an, daß sie die Leute verarschen. “Fans sind Sklaven” - deutlicher geht’s nicht. Aber die Menschen WOLLEN betrogen werden, solange man ihnen dabei das Gefühl gibt, sie wären die Eingeweihten.
Ausverkaufte Hallen. T-Shirts mit der eigenen Verhöhnung drauf für 25 Mark. Die Leute kauften ihre eigene Demütigung und trugen sie mit Stolz.
Das ist keine Kunst. Das ist Soziologie mit Verstärker.
Die Selbstzerstörung
Jede gute Geschichte braucht ein Ende. Bei den SCHEINEN kam es, als die Maske zum Gesicht wurde. Michi verkaufte Würste nach de Shows. Tommy durchlöcherte sich wie ein Schweizer Käse. André landete in der Klapse. Und Karl? Karl wurde zu dem Zyniker, den er nur spielen wollte.
Februar 2002. Berger will Verträge. Vier Alben in fünf Jahren. Alkoholverbot. Kreative Kontrolle.
Karl schmiß den Tisch um und ging.
Das war’s. Könnt Ihr alles in Nagels “SCHLUND” nachlesen - einer irren Schwarte, die Autobiografisches mit apokalyptischer paranoider Science Fiction mischt.
Was bleibt
Keine offizielle Veröffentlichung. Nur Bootlegs, Gerüchte, Legenden. Das perfekte Ende für eine Band, die nie real sein wollte.
Jetzt, 2025, kommen die Aufnahmen doch raus. “Technisch aufpoliert”,sagt Karl. Als ob man eine Leiche schminken könnte und sie dadurch weniger tot wäre.
Aber weißt du was? Vielleicht ist das genau richtig. Die SCHEINE waren immer schon Zombies - untote Musik für eine untote Szene. Warum nicht nochmal auferstehen lassen? Die Welt ist heute noch beschissenerals 2001. Perfektes Timing.
Die Songs, die keiner braucht, aber alle verdienen
“Nudeln mit Ketchup” - die musikalische Bankrotterklärung einer Generation. Kein romantisiertes Elend, nur stumpfe Akzeptanz. “Was gab es gestern / Nudeln mit Ketchup / Was gibt es heute / Nudeln mit Ketchup”. Philip K. Dick hätte seine Freude gehabt: Eine Dystopie ohne Science Fiction, nur Alltag.
“Attentittentat” - Wortspiel trifft Hirnschmelze. Zu klug für Idioten, zu dumm für Intellektuelle. Der perfekte Song für niemanden.
“FEIND!” - 102 Sekunden Paranoia. Von “Da ist FEIND!” zu “FEIND bin ICH!” - die komplette Eskalationsspirale des Wahns mit der Punk-Dampfwalze.
“Ode an den Rausch” - Schiller rotiert im Grab mit 200 BPM. Bildungsbürgertum trifft Komasaufen. Deutschland in 79 Sekunden. Geschrieben von jemandem, der keinen Alk anrührt.
Die verbotenen Songs
“Schweine” - der Song, der nur dreimal live gespielt wurde. Dann verboten. Dann geleugnet. Dann vernichtet. “Jeder kann zum Schwein werden” - zu wahr für 2001, zu wahr für 2025.
“UVSS” - der Ersatz. Noch schlimmer. “Nazi-Schweine! Punker-Schweine! Türken-Schweine!” Alle gleich, alle scheiße. Political Correctness mit dem Vorschlaghammer zerdroschen.
Selbst eine Band ohne Grenzen hatte Grenzen. Manche Wahrheiten sind zu direkt.
Die Presse-Idioten
OX: “Die ehrlichste Band der deutschen Punkszene, auch wenn es noch so absurd klingt.”
Ehrlich? EHRLICH? Eine Band, die aus Excel-Formeln gebaut wurde? Das ist wie McDonald’s als “authentische Küche” zu bezeichnen.
Spex: “Kulturwissenschaftliches Phänomen.”
Natürlich. Wenn Intellektuelle nicht mehr weiterwissen, nennen sie’s “Phänomen”. Hauptsache, man muß nichts verstehen.
Die Wiederauferstehung
Jetzt also Bandcamp. Soundcloud. Vielleicht Vinyl, “wenn genug Interesse da ist”. Karl spielt wieder mit den alten Formeln. Künstliche Verknappung, nostalgische Verklärung, die übliche Scheiße.
Aber weißt du was das Ironische ist? Es wird funktionieren. Wieder.
Weil die Menschen 2025 noch verzweifelter nach “Echtheit” suchen als 2001. Und was ist echter als eine Band, die zugibt, daß alles fake ist?
Was ich davon halte
Die HEILIGEN SCHEINE waren keine gute Band. Sie waren nicht mal eine schlechte Band. Sie waren ein Spiegel. Und Spiegel können nicht lügen - sie zeigen nur, was davor steht.
2001 stand davor: Eine Szene, durch und durch im Niedergang, mit romantischer Verklärung im Blick zurück. 2025 steht davor: Eine Welt, die den Niedergang und die Wunsch nach "Rückkehr der guten alten Zeit" zur Normalität erklärt hat.
Die Musik ist Schrott. Die Texte sind zynisch bis zur Selbstparodie. Die ganze Aktion war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Perfekt.
Kauf die Scheiße. Hör sie dir an. Versteh, warum du sie haßt. Versteh, warum du sie liebst. Versteh, daß beides dasselbe ist.
Die HEILIGEN SCHEINE waren die Band, die niemand wollte, aber alle verdienten.
Jetzt kriegt ihr sie nochmal.
Viel Spaß beim Kotzen.
Philo S. Spinsky, 62, schreibt, wenn er muß. Lebt in Hamburg. Haßt alles, besonders sich selbst. Hat die HEILIGEN SCHEINE 2001 live gesehen. Einmal. Hat gereicht.



