Schöner Scheitern
1974: Muskeln sind böse, falsche Muskeln verderblich!
1974 begann der Williams-Verlag mit der Publikation der wichtigsten US-Marvels auf deutsch - insgesamt 7 Comic-Serien, fast lückenlos alle Geschichten von Anfang an. Ein paar Jahre später wurde das Programm sogar auf 10 Serien erweitert.
Unmöglich, das alles mit 20 Mark Taschengeld im Monat zu kaufen, schließlich ging schon fast die Hälfte drauf für Perry alle 14 Tage plus 4 Rhodan-Romane im Monat plus die gebrauchten, die ich im Second-Hand-Landen einsackte, Einige davon unter dem Pullover. Ging ja nicht anders.
Eine Weile später - ich war 14 - wurde Perry eingestellt. Was kein echter Verlust war, der frühere Pioniergeist war eh hin, Perry war handzahm geworden. Gleichzeitig erlebten die Marvels einen Qualitätssprung - ich merkte mir die Namen Jack Kirby und John Buscema, später kamen noch Neal Adams und Barry Smith hinzu.
Deren zeichnerisches Feuerwerk züchte einen Traum in mir: ICH WILL DAS AUCH KÖNNEN!
Ich studierte die Hefte sorgfältig - es gab da fast immer einen »Bleistiftzeichner« und einen »Tuscher«, zwei Schritte, aha. Manchmal auch beides in einer Person. Einen Bleistift hatte ich, dazu lieh mir von meinem besten Freund Markus Tuschefüller. Den Wohnzimmertisch erklärte ich zum Zeichentisch, vor mir ausgebreitet ein Stapel Marvels - es konnte losgehen!
Und endlich hatte ich meine Ruhe - war ungestört von meinem Vater, den meine Mutter mittlerweile rausgeworfen hatte und der ein halbes Jahr später sein letztes Bier getrunken und in die ewigen Jagdgründe eingegangen war.
Das kümmerte mich herzlich wenig, mich interessierte in diesem Moment nur Prinz Namor, der in den Zweitgeschichten der erstaunlichen Spinne seine Unterwasser-Abenteuer erlebte. Ich schaute genau hin. Zeichnete Strich für Strich ab, ohne Butterbrotpapier. Ok, nicht wirklich »freihändig« und für die Menschheit kein großer Schritt - für mich jedoch ein Quantensprung!
Mein Freund Markus fand das durchaus respektabel. Und sagte:
»Kannst Du auch ein Hemd zeichnen?«
»Wie, ein Hemd?«
»Na, Leute mit ohne dicke Muskeln! Solche Muskelmänner gibt's doch gar nicht in echt.«
Nee, »Hemden« konnte ich natürlich nicht. Da hatte ich ja nichts zum Abzeichnen - höchstens mich selbst, aber auf die Idee kam ich nicht. Außerdem fand ich Typen wie mich langweilig.
Die Zweifel waren gesät. War das alles nur Mist, was ich mir zusammenschmierte?
Meine Kunstlehrerin ließ an den Marvels ebenfalls kein gutes Haar. Ich zeigte ihr ein Kirby-Heft von Die Fantastischen Vier, weil ich das UNSCHLAGBAR GEIL fand, und sie kommentierte das so: »Immer diese Muskeln. Und dazu noch falsch. Die ganze Anatomie stimmt nicht, das solltest du dir auf keinen Fall als Vorbild nehmen!«
Also: Mein bester Freund fand Muskelmänner scheiße, meine Kunstlehrerin fand falsche Muskeln noch beschissener - und ich selbst hatte keine. Ich fuhr auf den letzten Dreck ab und war mal wieder auf dem Holzweg.
Und weil ich sowieso den Verdacht hatte, nichts zu taugen, faßte ich die Tuschefüller ab sofort nur noch selten an.
Das waren judgement days. Entscheidungen am Kreuzweg. Hätte ich mich in jenen Tagen und Wochen nicht so ins Bockshorn jagen lassen, würde ich mir nicht genau jetzt den Kopf zerbrechen.
Ich war ein armes Würstchen, unsicher, zweifelnd und leicht zu erschüttern. Ohne Mumm zu sagen ICH WILL DAS ABER! Ich hätte jemanden gebraucht, der mir Feuer unterm Arsch macht und WEITERMACHEN! sagt. Einen Vater oder älteren Bruder, einen Nachbarn, der kein stumpfer Prolet war und auch kein debiler Rentner - vom denen gab es im Haus reichlich! Vielleicht auch einen Gleichgesinnten, einen Spinner wie mich. Dann wäre das sicher was geworden.
Im Idealfall jemand, der mir ein paar Tricks hätte verraten können - z.B. daß ich lieber zuerst den wichtigsten Formen und Objekten ihren Platz zuweisen sollte statt mich detailliert an Linien entlangzuhangeln. Was man eben so weiß, wenn man ein bißchen Ahnung vom Zeichnen hat.
Aber nix da. So jemanden hatte ich nicht. Auch die Kunstlehrerin ließ lieber drauflosmalen statt Handwerkliches und Inspiration zu vermitteln.
Hätte, hätte, heul, schluchz - angesichts meiner Jammerarie würde ich am liebsten irgendwas kaputtmachen! Mir wird schlagartig klar, daß ich noch mal so einen Muskel-Namor abzeichnen muß - mit Tuschefüller! Scheiß drauf, daß ich mittlerweile weiß, daß die Stifte zum Comiczeichnen nicht taugen. Und nicht nur einen abzeichnen - sondern Hundert oder gar Tausende! Solange, bis ich mich traue, meinen Muskelmännern selbst Leben einzuhauchen!
Alles läuft darauf hinaus, daß ich per Zeitmaschine zurück muß in jene Tage, als sich alles entschied. Um mich zu reparieren. Um mein 15jähriges Ich ordentlich durchzuschütteln: »Mach weiter! Täglich! Bis der Arzt kommt!«, würde ich ihm einschärfen. »Laß dich niemals von Dingen abhalten, die du liebst!« Dieser Groschen fiel ja leider erst fünf Jahre später.
Oder vielleicht noch ein paar Jahre weiter in die Vergangenheit reisen – ins Jahr 1971, als ich mein erstes Perry anstaunte? Oder gleich zurück bis in die tiefsten Sechziger, zu Buntstiften und Augsburger Puppenkiste?
Aber wie mache ich das mit der Zeitreise? Hm.
Egal, erst mal weiterschauen, wie sich in den folgenden Jahren die Dinge entwickelten. Da kommt ja noch einiges - schon bald in diesem Theater!