
Die Heiligen Scheine
Auszug aus SCHLUND (2018)
Der lockere Aufstand war vorbei. Ich war die ständigen Scharmützel gegen alles und jeden leid. Selbst die Chaostage, die in Wuppertal ihren Anfang genommen hatten und in Hannover zum Zentrum meines Punkuniversums geworden waren, langweilten mich; ein lächerlicher Abklatsch. Genauso wie ich – ein Berufsjugendlicher, der einer Handvoll abenteuerlustiger Kids Stichworte und Parolen lieferte.
Die Punk-Revolution fand nun endgültig im Supermarkt statt. Viele waren »Fans« ihrer jeweiligen Bands, und ganz egal ob per Mail Order, bei gigantischen Festivals wie dem Force Attack oder eben den Chaostagen – die Leute erwarteten, daß ihnen irgendwer den Arsch abwischte und die anstrengende Arbeit tat. Ein Programm entwarf. Also programmierte ich. Für Geld
Das Leben versprach öde und langweilig zu werden. Wenn ich nicht als Nerd vor Glotze und Monitor versauern wollte, mußte etwas passieren.
Genau das war die Situation, als mich nach sieben Jahren Sendepause Berger anrief. Einmal an der Strippe, bearbeitete er mich wie einen Pizzateig.
»Pass auf«, erklärte er, »die Idee ist simpel. Wir mischen Die Toten Hosen mit den Böhsen Onkelz, dazu eine Prise Kassierer-Humor, fertig ist der Lack, die Killer-Band schlechthin! Eine, die Millionen einspielt!«
»Klingt vielversprechend«, gab ich zu. »Heraus käme ein unterirdischer Bodensatz aus 25 Jahren Punkrock. Der Schlußgong. Die Kassierenden Böhsen Hosen. Die Leute mit genau dem Schwachsinn verarschen, den sie hören wollen.«
»Eben. Du machst also mit, richtig? Kennst du in Hamburg ein paar fähige Musiker mit Street-Credibility, die wir ins Boot nehmen können?«
»Kein Problem. Hier gibt’s massig Altpunks, die sich genauso langweilen wie ich. Die laufen jeder Mohrrübe hinterher. Besonders, wenn sie nach Geld stinkt.«
»Das wird sie, das wird sie! Ich finanziere alles. An der Kohle wird es nicht scheitern.«
Wir lachten und versicherten uns gegenseitig Genialität, aber ganz wohl war mir bei der Sache nicht. Ich hatte nicht vergessen, welche Nummer Berger Anfang der 90er mit meinen Ex-Mitmusikern von Clear Yourself abgezogen hatte. Gehirnwäsche, Tätowierungen, Befehl und Gehorsam, Drohanrufe, Fresse dick, das volle Programm.
»Das ist lange her«, rechtfertigte sich Berger. »Und war scheiße. Ich habe mich geändert, verzeih mir. Kannst du das?«
Wie konnte ich nicht? Ich schämte mich für alles, was ich Berger als Kind angetan hatte, auch ich hatte wohl oder übel über die Jahre einiges hinzulernen müssen. Meine Weste war keineswegs blütenweiß.
Ich gab mir einen Ruck, wollte vergessen und drüber stehen, Blick nach vorn, ich spielte ein ganzes Konzert auf der Klaviatur des Edelmuts. Als wir uns nach zwei Stunden verabschiedeten und auflegten, brummte mein Schädel, das Ohr glühte, mir fiel fast der Arm ab. Und Berger hatte mich an der Leine.
Drei Monate später war alles fertig: Die Band mit dem Namen Die Heiligen Scheine, über ein Dutzend Songs sowie Termine für die erste Kurztour. Es lief wie am Schnürchen und viel besser, als ich in meinen kühnsten Träumen erwartet hätte. Berger machte einen professionellen Job, die Konzerte waren voll, nach einem Jahr hatten wir bereits 87 Auftritte auf dem Buckel. Wir waren innerhalb weniger Monate vom Geheimtipp zum Brenner aufgestiegen, der tausend Leute in die Hallen zog.
Am ersten Wochenende des Jahres 2002 nahmen wir ein Demo mit unseren Songs auf; vier Wochen später sollte das eigentliche Album in einem professionellen Studio produziert werden.
Doch so weit kam es nicht.
Bislang hatten wir nur einen Vorvertrag bei frißoderstirb unterschrieben, ein Label, das Berger nur für uns gegründet hatte. Später waren wir mit unserer Karriere beschäftigt und verschwendeten keinen Gedanken an Papierkram. Fahren, Auftritt, Fahren, Auftritt, Fahren, Ausschlafen, Erholen, Geld ausgeben, das war unser Leben.
»First things first, alles weitere später«, vertröstete uns Berger, wenn wir doch mal auf die Idee kamen, die verhaßten Formalien in trockene Tücher bringen zu wollen.
Drei Tage vor dem Beginn der Studioaufnahmen sollten alle noch offenen Fragen geklärt werden. Wir fuhren nach Hannover und hockten schließlich in Bergers Büro auf einer Bank wie Hühner auf der Stange. Er selbst flezte sich gemütlich im Sessel und wedelte mit einem Batzen Papier.
»Eigentlich ist doch alles klar«, sagte er und grinste. »Wir können einfach weitermachen wie bisher.«
»Was ist klar? Nichts ist klar! Wir stehen ohne endgültigen Vertrag da und haben keine Ahnung, was bei den Plattenverkäufen für uns herausspringt«, entgegnete ich.
»Hast du die Optionsklausel im Vorvertrag nicht gelesen? Da steht unübersehbar drin, daß frißoderstirb nach Ermessen sechs weitere Verträge wirksam werden lassen kann.«
»Davon wissen wir nichts.«
Berger war gut vorbereitet und knallte den Stapel Unterlagen, den er schon die ganze Zeit in den Händen hielt, auf den Tisch, obenauf der Vorvertrag mit gelb markierter Optionsklausel.
»Habt ihr aber unterschrieben.«
Ich nahm die Verträge und las die Überschriften: Managementvertrag, Merchandisingvertrag, Konzertagenturvertrag, Verlagsvertrag, Produzentenvertrag, Künstlerexklusivvertrag.
»Ich sehe hier keine Unterschriften.«
Und war mir ziemlich sicher, daß Berger uns nur verarschte.
Der immer noch grinste. Und todernst meinte, was er sagte: »Nicht die Einzelverträge habt ihr unterschrieben – aber den Vorvertrag! Und damit auch mein Optionsrecht, das ich hiermit wahrnehmen will!«
Ich blätterte immer noch in den Verträgen und glaubte nicht, was ich da sah. Vier Alben in fünf Jahren, dazu drei Videos jährlich, ein Merchandisingprogramm, mit dem sich ein ganzes Ladengeschäft füllen ließ. Und das letzte Wort zu allem, was von uns nach draußen ging, hatte Berger. Als Sahnehäubchen mußten die Musiker garantieren, auf ihren Konzerten keinen Alkohol und keine Drogen zu konsumieren, sonst traten horrende Vertragsstrafen in Kraft. Wir waren am Arsch.
Ich sah jeden Spaß aus unserem Leben verschwinden, weil es von einer Dampfwalze namens Berger zermalmt wurde. Wir würden zu einem singenden Dauerwerbespot, dessen Existenzberechtigung darin bestand, seinen Müll zu verkaufen. Und mich fertigzumachen. Das war es, das war sein Plan: MICH FERTIGZUMACHEN!
Berger saß derweil feixend in seinem Chefsessel und faltete die Hände über dem Schoß, weil er den Moment der Rache genoss. Und sie sollte nicht kurz und schmerzlos sein.
Diesen Triumph wollte ich ihm nicht gönnen. Die Verträge flogen im hohen Bogen durchs Zimmer, es war Zeit für einen meiner berühmten Ausraster.
»DU VERFICKTES STÜCK SCHEISSE!«, brüllte ich. »Mir ist total egal, was du ›wahrnehmen‹ willst. Ich bin hier raus, für immer!«
Und blickte meine Bandkollegen an. »Ihr müsst selbst wissen, ob ihr als Leibeigene vor Berger auf dem Boden herumrutschen wollt, weil er euren Arsch mit Kohle pudert. Ich jedenfalls gehe. Für mich sind die Scheine gestorben.«
Ich gab dem Glastisch einen Tritt; der fiel um, zersplitterte. Berger sprang auf, die Hände in einer abwiegelnden Geste erhoben.
»Ruhig Blut, Karl! Wir können doch über alles reden!«
Gar nichts konnten wir. Ich stürmte raus, bestellte ein Taxi, das mich zum Hannoveraner Hauptbahnhof brachte. Zwei Stunden später war ich zurück in Hamburg und schloss Barbara in die Arme. Wir waren erst seit zwei Monaten zusammen, aber mit einem Mal sehnte ich mich nach einem hübsch eingerichteten Zuhause, um mich darin mit ihr vor meiner Vergangenheit zu verstecken.
»Schön, daß es dich gibt«, sagte ich und küsste sie. »Ab heute beginnt mein neues Leben. Ich werde jetzt vernünftig. Weil ich das WILL!«
Immerhin, die Vernunft hielt einige Jahre. Ich tat bei der Goldenen Kamera meinen Job, wurde ein treusorgender Vater und genoss die gemeinsamen Fernsehabende mit Barbara. Nur Berger wollte nicht einsehen, daß sein Coup gescheitert war und Die Heiligen Scheine für immer tot.
