DIE HEILIGEN SCHEINE: Wie man eine Szene fickt und dafür Applaus bekommt

I. DAS EXPERIMENT

26 Songs. 67 Minuten. 15 Monate. Eine Band, die nie existiert hat, aber echter war als alles, was damals auf deutschen Bühnen rumsprang.

Die Heiligen Scheine waren kein Unfall. Sie waren Mord mit Ankündigung.

Andreas Berger, Manager aus Hannover, hatte die Formel. Karl Nagel, ausgebrannter Web-Entwickler mit Punk-Vergangenheit, hatte die Stimme - und eine Punk-Vita als Chaostage-Masterbrain und APPD-"Kanzlerkandidat", die beim Trommeln helfen würde. Der Rest waren Michi Koslowski (Gitarre), Tommy Rehberg (Bass), André Paulsen (Schlagzeug) - Typen, die nichts mehr zu verlieren hatten außer ihrer Illusion, daß Punk noch irgendwas bedeutet.

Bergers Pitch war so simpel, daß es wehtat: “Wir mischen Die Toten Hosen mit den Böhsen Onkelz, dazu eine Prise Kassierer-Absurdität - die perfekte Verkaufsmaschine.” Natürlich nicht ALLES, was diese Bands ausmacht - das wäre unmöglich gewesen. Sondern nur die Zutaten, die sich kompatibel zusammenschrauben ließen - zu einer bösartigen Musik-Maschine.

Und Karl sagte Ja. Nicht weil er dran glaubte. Sondern weil er’s nicht mehr tat.

Das war im Herbst 2000. Innerhalb von drei Monaten hatten sie zwölf Songs. Innerhalb von 15 Monaten hatten sie 87 Konzerte gespielt und eine Szene in Schockstarre versetzt.

Die Heiligen Scheine waren das konsequente Endprodukt einer Bewegung, die sich selbst verramscht hatte. Sie bewiesen: Man kann aus Formeln eine Band bauen. Man kann Emotionen verkaufen, die man nicht fühlt. Man kann Menschen manipulieren, indem man ihnen einen Mix aus Wahrheit und Lüge serviert - und sie werden’s abfeiern.

 

II. DIE DREI SÄULEN DES BETRUGS

Die Toten Hosen = Gemütlichkeit zum Abgewöhnen

Kneipenpunk für Leute, die morgens zur Arbeit müssen. Lieder über Freundschaft, Saufen, gute Absichten und ein bißchen Rebellion. Nichts Gefährliches. Nichts, was wehtut. Nur als Freizeitbeschäftigung zwischen Fußball und Familienurlaub.

Die Scheine kopierten das perfekt: “Fressen und Saufen” - das ultimative Gemeinschaftslied für Leute, deren größte Sorge ist, ob der Kühlschrank noch voll ist. “Fucking Moped” - Nostalgie für Leute, deren Jugend wahrscheinlich genauso scheiße war wie ihre Gegenwart, aber wenigstens hatte man damals noch Haare.

Die Sabotage? Keiner merkte, daß “Gemeinschaft” hier nur bedeutet: gemeinsam den eigenen Verfall feiern. Daß “Freundschaft” nur die Ausrede ist, sich nicht ändern zu müssen. Daß diese Songs nicht von Freiheit handelten, sondern von Kapitulation - aber mit Gitarre und Refrain.

Die Böhsen Onkelz = Pathos für Verlierer

Durchhalteparolen für Leute, die nichts durchhalten müssen außer ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit. “Wir gegen die Welt!” - aber wer ist “wir”? Und gegen wen eigentlich? Egal. Hauptsache, man fühlt sich wie ein Kämpfer.

Die Scheine perfektionierten das bis zur Selbstparodie: “Niemals” - ein Song, der fast nur aus Film- und Romantiteln besteht. Selbst der Schmerz ist geklaut. “Wir sind wir” - eine Tautologie als Identitätshymne. “Mit Gewalt geht alles” - Opfer-Rhetorik so übertrieben, daß sie sich selbst entlarvt.

Die Sabotage? Das Publikum sang mit. Mit erhobenen Fäusten. Mit Tränen in den Augen. Sie merkten nicht, daß jedes Wort sie verspottete. Daß “Durchhalten” hier nur bedeutet: im eigenen Sumpf stehenbleiben. Daß diese Härte keine Stärke war, sondern Regression in Rein-Form.

Die Kassierer = Grenzen? Welche Grenzen?

Wolfgang Wendland hatte schon in den 90ern gezeigt: Man kann ALLES machen, solange man’s laut genug macht. Keine Melodie heilig, kein Genre sicher, kein Tabu ungebrochen. Operette fickt Hardcore fickt Volkslied fickt deine Großmutter.

Die Scheine nahmen das Prinzip und trieben es weiter: “Ode an den Rausch” - Schillers heiligste Verse für Saufen und Ficken mißbraucht. - Hochkultur-Sprache für primitive Geilheit, bis beide im Chaos kollabieren. “FEIND!” - 102 Sekunden Paranoia-Raserei, die zeigt, wie schnell man von “Da ist FEIND” zu “FEIND bin ICH” kommt.

Die Sabotage? Die Unberechenbarkeit selbst. Man wußte nie, was als nächstes kam. Punk? Hardrock? Digital Hardcore? Volkslied? Diese Band hatte kein Genre - sie hatte ein Prinzip: Fick deine Erwartungen.

 

III. WIE ES FUNKTIONIERTE (ZU GUT)

Februar 2001, Hamburg. 150 Zuschauer. Debüt-Konzert.

Die Leute wußten nicht, was sie erwartete. Sie bekamen:

  • Hosen-Kneipenpunk zum Mitsingen
  • Onkelz-Pathos zum Faust-in-die-Luft-Recken
  • Kassierer-Trash zum Kopfschütteln

Und sie liebten es. Alle. Aus den falschen Gründen.

Die Antifa-Kids hörten die Sozialkritik (die nicht da war). Die Skins hörten die Härte (die leer war). Die Kneipenpunks hörten die Gemütlichkeit (die giftig war). Die Intellektuellen hörten die Ironie (und fühlten sich überlegen).

Jeder fand, was er suchte. Und keiner merkte die Falle.

Und dann der Slogan: "Die ehrlichste Band der Welt."

Berger hatte ihn sich nicht ausgedacht - er hatte ihn gestohlen. Von "Die Ärzte".

Das war keine Ironie. Das war Soziologie als Waffe.

Innerhalb von drei Monaten spielten sie vor 400 Leuten. Nach sechs Monaten vor 800. Und dann standen sie vor 2000 Zuschauern beim Punk & Disorderly Festival in Aschaffenburg.

Die Merchandise-Strategie war das letzte perfide Detail: T-Shirts mit “Fans sind Sklaven”- Aufdruck waren Bestseller. Die Leute kauften ihre eigene Verspottung. Sie trugen die Beleidigung mit Stolz. Sie verstanden es als Witz - nicht als Diagnose.

87 Konzerte in 15 Monaten. Manchmal drei Shows pro Woche. Die Maschinerie lief. Bergers Konzept funktionierte perfekt.

Zu perfekt.

 

IV. DIE SONGS, DIE ZU WEIT GINGEN

Von ihren 26 Songs wurden kam einer in den Giftschrank, andere wurden nie live gespielt, weil der Manager ebenfalls einschritt. Das muß man sich klarmachen: Irgendein Geld-Maschinist setzt einer Band, deren ganzes Konzept Grenzverletzung war, Grenzen. Und die macht mit.

“Schweine” - Der Song, der nur dreimal live gespielt wurde. Dann gestoppt. Dann geleugnet. Dann aus dem Gedächtnis gelöscht.

Warum? Weil er die Nazi-Vergangenheit der Onkelz aufgriff - und sie nicht verurteilte. Nicht verteidigte. Sondern normalisierte. “Jeder Mensch ist fähig, zum Schwein zu werden” - klingt erstmal nach Warnung. Aber live wurde draus: “Wir sind doch alle nicht besser!”

Die Ironie kollabierte unter dem Gewicht des Themas. Bei “Fans sind Sklaven” war klar: Publikumsverhöhnung. Bei “Schweine” war unklar: Nazi-Relativierung oder Nazi-Relativierungs-Kritik?

Zu gefährlich. Berger stoppte den Song. Die Band leugnete ihn nach Onkelz-Manier: “War nur ein Proberaum-Gag.” “Haben wir dreimal gespielt, dann gemerkt, daß es Müll ist.” Die perfekte Meta-Ironie: Sie wandten die Onkelz-Taktik auf ihren eigenen Song an.

“UVSS” - Der Ersatz-Song. Noch radikaler. Ausgeschrieben sollte das heißen: “Untervotzen-Schweineschwänze” - politischer Nihilismus als Digital Hardcore. “Nazi-Schweine! Punker-Schweine! Türken-Schweine!” Alle gleichgemacht, alle bedeutungslos.

Sollte ungefährlicher sein als “Schweine”. War er nicht. Kam ebenfalls auf die Streichliste. Das doppelte Verbot.

Zwei Songs, die zeigten: Selbst zynischste Sabotage hat Grenzen. Manche Wahrheit ist zu direkt. Manche Entlarvung zu gefährlich.

 

V. DIE PRESSE CHECKTE NICHTS

OX (Juni 2001): “Die ehrlichste Band der deutschen Punkszene.”

Ehrlich? Ehrlich? Eine Band, die von Anfang an log, die aus Formeln zusammengebaut war, die ihr Publikum systematisch manipulierte - und die OX nannte sie ehrlich.

Das war der Moment, wo Berger wußte: Es funktioniert. Perfekt.

Plastic Bomb (August 2001): “Der Ausverkauf hat einen Namen. […] Das konsequente Endprodukt einer Szene, die sich längst selbst aufgegeben hat.”

Endlich jemand, der’s checkte. Und was passierte? Die Band wurde noch beliebter. Die Fans fühlten sich bestätigt: Seht her, sogar die Kritiker hassen uns! Wir müssen echt sein!

Spex (Oktober 2001): “Kulturwissenschaftliches Phänomen”, “postmoderne Dekonstruktion”, “kulturelles Sampling”.

Akademiker-Geschwurbel. Die Spex machte aus einem Betrug eine Doktorarbeit. Karl kotzte fast, als er’s las. Nicht weil’s falsch - sondern weil es zu kompliziert war. Die Scheine waren keine Dekonstruktion. Sie waren ein Fuck You an alle, die noch an irgendwas glaubten.

Berger liebte ALLE Reaktionen. Positiv, negativ, intellektuell - egal. Alles bestätigte sein Konzept: Die Band funktionierte genau so, wie geplant.<

 

VI. ALS DIE MASKE ZUM GESICHT WURDE

Irgendwann zwischen dem fünfzigsten und siebzigsten Konzert passierte das, was Berger nicht eingeplant hatte:

Die Bandmitglieder wurden zu ihren Rollen.

Michi verkaufte Würste nach den Shows. Aus seiner mitgebrachten Bratpfanne. “Guter Punk macht hungrig.” Und er war stolz drauf. Es war keine Performance mehr. Es war seine Identität.

Tommy exhibitionierte seine Piercings mit zunehmender Besessenheit. Was als Provokation begann, wurde zur Sucht. Mehr Metall im Fleisch. Mehr Reaktionen. Mehr Beweis, daß er lebt.

André lebte seine Bühnen-Persona 24/7. Der Psycho-Drummer, der sich mit Rasierklingen schnitt, der brüllte, der ausrastete. Nur: Es war kein Spiel mehr. Die psychiatrischen Aufenthalte später waren real.

Und Karl? Karl merkte, daß er die Zynismus-Maske nicht mehr abnehmen konnte. Seine Freundin sagte ihm im Dezember 2001: “Du bist nicht mehr der Mensch, den ich kennengelernt habe.”

Sie hatte recht.

November 2001, Karls Tagebuch: “Wir haben aufgehört zu spielen. Wir SIND die Songs geworden. Die Maske ist zum Gesicht geworden.”

Das war der Moment, wo das Experiment außer Kontrolle geriet. Wo die Sabotage sich selbst sabotierte. Wo die Fake-Band realer wurde als echte Bands.

 

VII. DAS ALBUM, DAS NIE ERSCHIEN

“Heilige Scheiße - Heilige Glieder”. 13-15 Songs aus 26 Demo-Aufnahmen. Professionelle Studioproduktion geplant für Februar 2002.

Berger war euphorisch. Das würde der Höhepunkt werden. Der Beweis.

Karl stand im Januar 2002 im Studio und hörte die Demo-Aufnahmen, sagte: “Das bin nicht ich. Das ist jemand anders.”

8. Februar 2002. Hannover. Das Vertrags-Meeting.

Berger präsentierte sechs Verträge. Alle Details penibel ausgearbeitet:

  • 4 Alben in 5 Jahren (Pflicht)
  • 3 Videos jährlich (Pflicht)
  • Merchandising-Programm (Bergers Kontrolle)
  • Alkohol- und Drogenverbot bei Auftritten
  • Vollständige kreative Kontrolle durch Berger

“Ihr habt das doch schon unterschrieben. Das hier sind nur die Details.”

Ja, sie hatten unterschreiben - den Vorvertrag und damit auch Optionsklausel auf weitere Verträge. Berger hatte "seine" Band die ganze Zeit in der Tasche. Das war kein Meeting. Das war ein Putsch.

Karl explodierte. Warf den Glastisch um. Beschimpfte Berger als “kontrollfixierten Scheißmanager”. Stürmte raus.

Drei Tage vor den eigentlichen Studioaufnahmen.

Die Band war tot.

 

VIII. WAS ÜBRIG BLIEB

Michi blieb bei Berger. Versuchte, die Band ohne Karl weiterzuführen. Scheiterte. Verschwand 2003 spurlos aus der Szene. Bis heute.

Tommy gründete die SCHLAFFI-DEPPEN (2003-2008). Eine Band, über die niemand mehr redet.

André wurde Taxifahrer in Hamburg. Nach mehreren Psychiatrie-Aufenthalten.

Berger ist nicht erreichbar für Stellungnahmen.

Karl kehrte zur Web-Entwicklung zurück. Heiratete mit Barbara. Schrieb 2018 den autobiographischen Roman “Schlund”, in dem er sich über die Scheine erstmals öffentlich ausließ.

Kein offizielles Album. Keine offizielle Veröffentlichung. Nur Bootlegs.

Das Album, das nie erschien, wurde dadurch zum perfektesten Artefakt der Band: Ein Phantom. Ein “Was wäre, wenn”. Eine Legende.

Genau wie geplant? Vielleicht. Oder der größte Unfall eines zu perfekten Plans.

 

IX. WAS DIE SCHEINE WIRKLICH WAREN

Nicht eine Band. Ein Spiegel.

Sie zeigten, was deutsche Punk-Bands 2001 waren: Hohl. Käuflich. Bereit, alles zu unter die Leute zu bringen, solange das Punk-Publikum johlte.

Sie bewiesen:

Man kann aus Formeln eine Band bauen. Hosen + Onkelz + Kassierer = Erfolg. Unmögliches realisieren. Mathematik statt Emotion. Und es funktioniert.

Man kann Authentizität vortäuschen. Je offensichtlicher die Lüge, desto eher wird sie geglaubt. “Fans sind Sklaven” wurde als ehrliche Provokation gefeiert - nicht als das, was es war: Eine Diagnose.

Man kann Menschen manipulieren, indem man ihnen die Wahrheit sagt. Niemand glaubt, daß man ihnen ins Gesicht sagt, wie man sie verarscht. Also sagt man’s. Und sie applaudieren.

Man kann eine Szene ficken - und sie wird einen dafür lieben.

Die Heiligen Scheine waren die konsequenteste Punk-Band Deutschlands, weil sie alles ablehnten - auch ihre eigene Existenz. Sie waren erfolgreich, indem sie ihr Scheitern inszenierten. Sie waren authentisch, indem sie jede Authentizität als Lüge entlarvten.

87 Konzerte. 26 Songs. 15 Monate. Dann explodierte das Experiment von innen.

Gut so.

 

X. DAS VERMÄCHTNIS

2002 bis heute: Die Bootlegs kursieren. Tribute-Bands spielen die Songs nach. Magazine schreiben über “die verlorene Band”. Fans streiten, ob die Aufnahmen echt sind.

Niemand hat’s wirklich verstanden.

Die einen halten sie für Genies. Die anderen für Betrüger. Die dritten für ein kulturwissenschaftliches Phänomen.

Sie waren keins davon. Oder alles. Spielt keine Rolle.

Die Heiligen Scheine waren das, was sie von Anfang an sein wollten: Ein Experiment. Ein Beweis. Eine Demonstration.

These: Man kann Menschen alles verkaufen, solange man ihnen gibt, was sie hören wollen.

Beweis: 87 Konzerte. Ausverkaufte Hallen. Fans, die “Fans sind Sklaven” mitsangen und sich dabei frei fühlten.

Schlußfolgerung: Authentizität ist eine Lüge. Rebellion ist käuflich. Punk ist tot - nicht weil niemand mehr an ihn glaubt, sondern weil alle zu viel zu Gläubigen mutieren.

Die Heiligen Scheine haben das bewiesen. Und dann haben sie sich selbst vernichtet. Stück für Stück. Karl hat am Ende nur den Stecker gezogen.

Was bleibt?

26 Songs, die funktionieren und gleichzeitig nicht funktionieren. Eine Band, die nie ein Album veröffentlicht hat, aber präsenter ist als die meisten, die’s taten. Ein Phantom-Meisterwerk namens “Heilige Scheiße - Heilige Glieder”.

Und die Frage: War das Kunst oder war das Betrug?

Falsche Frage.

Es war beides. Gleichzeitig. Und genau das war der Punkt.

Die Heiligen Scheine sind tot. Haben nie existiert. Existieren immer noch.

Willkommen im Paradox. Hier sind deine Biere. Sing mit.

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