Nr. 270

Verdammt kleine Welt

Meine Tochter und ihre Freund hielten ihren WLAN-Zugang, YouTube und unzählige Serien per Amazon Prime und Netflix für sowas wie ein Grundrecht. Für supernormal. Wenn ich auch nur andeutete, daß das nicht immer so war und jederzeit wieder verschwinden konnte, rollten sie nur mit den Augen. Ein Leben ohne Internet, Handy und Computer war für sie nicht vorstellbar. Und wenn, dann nur als Strafe, Hölle oder Krieg.

In solchen Momenten erinnerte ich mich an lange zurückliegende Abende, an denen der Fernseher kalt blieb, weil in den zwei Programmen nur Mist lief. Wir langweilten uns, und so erzählten unsere Eltern von ihrer eigenen Kindheit. Von Bombennächten und Prügelstrafe, von den 100 Kilometern, die mein Vater für einen Weihnachtsbaum mit dem Fahrrad hinter sich gebracht hatte. Von der fernsehlosen Welt, in der sie aufgewachsen waren und in der keiner nach Taschengeld zu fragen wagte.

Wir mochten diese Geschichten, obwohl wir manchmal den Verdacht hatten, daß uns nur erfundene Gruselmärchen aufgetischt wurden. Damit die Blagen die Klappe hielten und dachten: Ach, uns geht es doch im Vergleich dazu richtig gut! Selbstverständlich rochen wir den pädogischen Braten, und nichts hielt uns davon ab, jede freie Minute Radio und Fernsehen zu widmen. Weil deren Angebote beschränkt und oft auch sterbenslangweilig waren, vertrieben wir uns mit Comics und später Pop-Zeitschriften die Zeit.

Wenn ich in diese Zeit zurückreisen will, schalte ich den Computer aus, mein Handy, den Blu-Ray-Player und überhaupt alles, was technologisch nach den 70ern entwickelt worden ist. Also auch meinen Fernseher, denn auch der ist genauso wie mittlerweile Autos, Waschmaschinen und Kühlschränke ein Computer, auch wenn man das den Dingern auf den ersten Blick nicht ansieht.

Dann lege ich ein Winnetou-Hörspiel von EUROPA auf den Plattenspieler und setze mich mit einem Stapel uralter Schundhefte in den Sessel, plus saurer Gurke und Frikadelle aus dem Kühlschrank. Und schwups gleite ich, sagen wir mal, ins Jahr 1973! Die ganz normale nostalgische Debilität eben.

 

Als ich mich abends erneut mit meiner Mutter im ehemaligen Kinderzimmer für eine weitere Tauchfahrt zusammensetzte, gab es nichts auszuschalten. Ich mußte einfach nur ihrer Stimme lauschen, und schon war ich wieder in unserer alten Wohnung in Elberfeld.

Zunächst gestaltete sich die Zeitreise-Kamerafahrt in die frühen 60er zum Akt, sie ergab nur ein verwackeltes, unscharfes Bild. Das sah ungefähr so aus:

Durch die Wohnungstür direkt ins Wohnzimmer. Rechts sehe ich den Kohleofen, in dem Feuer flackert, wenn man das Türchen öffnet. Auf der anderen Seite der Fernseher, das Schlafsofa von Mamma und Pappa, Davor ein dunkler, glänzender Tisch und zwei Sessel. Auf dem Holzfußboden einige Läufer. Um in die Küche zu kommen, zieht man dem Vorhang beiseite, der einen Türrahmen bedeckt.

Darin steht links neben dem Fenster mein Paidi-Bett, im rechten Winkel dazu das Mini-Sofa mit der rotkarierten Decke. Das ist das Bett meiner Schwester. Gegenüber ein Küchenschrank und eine 2er-Elektro-Herdplatte.

So habe ich die Wohnung in Erinnerung, in der ich die ersten Jahre verbrachte. Daneben gibt es unzählige Geschichten, die mir meine Mutter erzählt hat. Angereichert durch Bruchstücke, Fakten und Fälschungen, die wirr in meinem Kopf herumspuken. Heraus kommt die Story von Anni und Kurt, die ungewollt und planlos in ihre Familiengründung hineinstolpern. Die sich mit Anne-Marie und Peter in ihrer kleinen Welt einrichten und der noch lange nicht an so was wie ein Internet zu denken ist, das auf jede Frage eine Antwort kennt.

Ich packte ein paar Kilotonnen Vorstellungskraft zusätzlich in die Zeitmaschine. Der Brennstoff, mit dem das Ding betrieben wird! Denn meine Mutter begann über eine Zeit zu erzählen, über die ich keinerlei Erinnerungen hatte. Haben konnte. Ich öffnete die Augen und befand mich im Sommer 1960.

 

Rund vier Monate, bevor Peter auf die Welt kommt, wird geheiratet. Das ist ein schöner Tag für Kurt und Anni. Zufrieden, aber nicht überglücklich, posieren die beiden fürs Hochzeitsfoto. Es ist ihnen ernst an diesem wichtigen Tag.

Abends geht’s zu Kurts Schwester Helga und ihren Mann Rolf. Sie tanzen in der kleinen Bude, und es wird gezecht, weil es was zu feiern gibt. Auch Helga hat einen dicken Bauch, aber das hindert sie nicht am Rauchen und Trinken. Denn aus dem leuchtenden Röhrenradio erklingt »It’s Now Or Never« von Elvis Presley, und das ist eine Aufforderung!

Ein paar Tage später entern Anni und Kurt ihre erste eigene Wohnung in der Wiesenstraße 33, Elberfeld-Nordstadt. Die hat Kurt über seinen Freundeskreis organisiert, und nun stehen sie da in den leeren Räumen. Aber die beiden sind stolz wie Oskar, sie werden das Kind schon schaukeln, ganz sicher!

Denn Anni hat jetzt 2000 Mark auf dem Konto. Die hat sie vor fünf Jahren nach dem Tod ihres Vaters geerbt. Ihre Brüder August und Bernhard haben den gleichen Betrag erhalten, Letzterer dazu das abbruchreife Haus und die Tankstelle. Aber er kümmert sich auch um ihre Mutter, die nur noch ein Wrack ist. Die Epilepsie hat sie schwer gezeichnet, sie braucht viel Pflege, dazu die Medikamente.

Gesehen hat Anni von ihrem Geld bislang noch nichts. Es soll erst ausbezahlt werden, wenn sie verheiratet ist. Und da sah es immer schlecht aus, so mit unehelichem Kind und ohne Mann.

Seit dem 28. Juli ist Anni nun endlich eine ehrbare Frau, und jetzt hält keiner mehr die Hand über das Geld, das doch ihr gehört.

2000 Mark sind eine stolze Summe im Jahr 1960, aber eine Wohnungseinrichtung kostet eben. Bei Uhlman, einem Möbelgeschäftchen in der Uellendahler Straße, werden Kurt und Anni fündig. Sie kaufen einen Wohnzimmerschrank, ein ausziehbares Clubsofa, einen Tisch und zwei hellbraune Chippendale-Sessel. So richtig schöne Dinger mit krummen Beinen - »Die Nitribit hatte auch welche«, das weiß die Anni! Sie hat die Schlagzeilen rund um die Ermordung der Edelprostituierte noch gut in Erinnerung.

Sonst weiß die Anni noch nicht viel von der Welt. Sie ist 23 Jahre, ein Mädchen vom Lande mit 8 Schuljahren. Und die Männer stehen auf ihre Kurven und ihr volles braunes Haar mit dem leuchtenden Rotschimmer. Sie hat sich bislang mit Putzen über Wasser gehalten.

Anni besitzt keinen Fernseher, kein Radio, liest keine Zeitung. Alles viel zu teuer, und so richtig interessiert sie sich auch nicht für das, was die Politiker schwatzen. Sie weiß nicht, daß gerade »Wirtschaftswunder« herrscht.

Aber sie weiß, was schön ist. Die Kuba-Truhe, die bald in der neuen Wohnung steht, zum Beispiel. Mit Plattenspieler und Radio drin. Endlich Musik, wann sie will! »Wir wollen niemals auseinandergehen« singt sie.

Und ihre Tochter Anne-Marie will sie. Die wird seit fast zwei Jahren von Nonnen im Augustinerstift versorgt, weil Anni bislang so viel arbeiten mußte und keine richtige Wohnung hatte. Und keinen Mann, jaja.

Wie im Triumphzug holt sie Anne-Marie heim, und bald darauf ist mit der Arbeit Schluß. Der Kurt verdient ja gut, und bald kommt das Baby.

Daß sie nicht gerade im Luxus leben, das macht nichts. Ist doch jetzt um Klassen besser als alles, was Anni bislang hatte. Ok, die Wohnung ist mit 40 Quadratmetern für bald vier Leute nur ein Schuhkarton. Die anderthalb Zimmer kosten aber auch nur 65 Mark im Monat. Es wird schon irgendwie gehen. Kurt hat auch gleich die tolle Idee, die Tür zwischen Wohnzimmer und Küche rauszunehmen, so daß man sich viel besser in der Wohnung bewegen kann.

Einen Kühlschrank haben sie nicht, aber dafür würde auch der Platz fehlen. So ein Riesenkasten ist eh mehr was für Leute, die Geld satt haben. Ebenso wie Telefone oder Autos. Da träumt sie noch nicht mal von. Na ja, ein Liter Benzin kostet 60 Pfennig, soviel wie ein halber Liter Bier bei Hanni Petzold, Kurts Stammkneipe. Und Anni ist klar, daß ihr Gatte da Prioritäten setzt.

Aber ein schicker Fernseher, das wär schon was! Aber es geht auch ohne. Die Brigitte, eine Arbeitskollegin vom Kurt, die hat so eine kleine Flimmerkiste. Da gehen sie immer zusammen hin, wenn was Interessantes läuft. Gemeinsam Fernsehen ist viel lustiger!

Richtig blöd ist, daß ihre Wohnung keine Toilette hat. Nur eine auf halber Treppe. Die müssen sie sich mit anderen teilen. Etwa mit der alten Fischer und ihrem Jägermeister. Der Gestank, der ihrem Gelege entströmt, versetzt Kurt eines Morgens dermaßen in Rage, daß er im Treppenhaus das Fenster aufreißt und in den Hof brüllt: »Das stinkt im ganzen Haus! Da wird einem ja das Kaffeewasser schlecht!« Das hören die Nachbarn, und alle lachen. Nur die alte Fischer nicht.

Nein, ein Meister der Diplomatie ist Kurt sicher nicht. Ein Arbeiter halt, und so benimmt er sich auch. Natürlich rührt er keinen Finger im Haushalt. Warum auch - er geht doch arbeiten und schafft das Geld ran! Die Wohnung flottmachen, einkaufen, kochen, das sind nicht seine Baustellen. Und wenn Anni bis zum neunten Monat rechts und links die Kohletüten in den zweiten Stock hochschleppt, dann geht Kurt unbekümmert neben seiner Liebsten die Stufen hoch, als wenn nichts wäre.

 

Dann ist es endlich soweit: Das Baby will raus, und weil sie ja kein Telefon haben, flitzt Kurt die Treppe runter, raus auf die Straße. Da ist immer viel Verkehr, aber bald kommt ein Taxi vorbei. Und dann zusammen in die Vogelsangklinik, die bei den Leuten auch »Gutehoffungshütte« heißt.

Kurt ist noch viel aufgedrehter als Anni, aber nachdem der Arzt die Lage begutachtet hat, gibt er dem werdenden Vater den Rat, erst mal für eine Zigarette um den Block zu wandern. »Das dauert noch«, sagt er.

Aber das Baby, das schon Monate zuvor einen elektrischen Schlag abbekommen hat, hält nichts von Raucherpausen, sondern gibt eine erste Kostprobe späterer Hektikrekorde. Noch bevor Kurt den Raum verlassen kann, fährt die nächste Wehe durch Annis Körper. Bald darauf hält sie ihren 3-Kilo-Jungen im Arm.

Jetzt, wo Kurt endlich Vater ist, wird er wortkarg. Er sucht den Abstand, und das wird sich auch in den kommenden Monaten und Jahren nicht ändern. Er kann mit dem quiekenden Bündel nicht viel anfangen, Biere heben sich leichter.

Deshalb fühlt er sich in seiner Stammkneipe deutlich wohler als zuhause. Oder besser: In seinen Stammkneipen! Mittlerweile hat er nämlich ein weiteres Domizil in der Wiesenstraße gefunden, gar nicht weit weg. In Rudi Beckers Gastwirtschaft trinkt es sich auch klasse.

Rudi ist ein großer, gutaussehender Typ, sein Lokal ist voll junger Leute, die Stimmung bestens. Da findet Kurt viele neue Freunde, zum Beispiel Günther Martsch, der beruflich LKWs fährt und privat Porsche. Oder Koko Weber, der in Vohwinkel Fußball spielt. Es dauert nicht lange, und sie gründen eine Kneipenmannschaft.

 

Anni kümmert sich derweil zuhause um die Kinder. Das ist bisweilen ausgesprochen langweilig. Auf den ersehnten Fernseher muß sie noch ein paar Jahre warten.

Mit den Nachbarn gibt’s nicht viel Kontakt. Außer »Guten Morgen« und »Schönes Wetter heute« läuft da nicht viel.

Und weil immer nur Radiohören auf die Dauer öde ist und die Illustrierten wie STERN oder NEUE REVUE schnell durchgeblättert sind, heißt es: Raus aus der Bude! Peter in den Kinderwagen, Anne-Marie an die Hand und dann geht’s los. Die Nordstadt rauf und runter, auf den Spielplatz, Freunde besuchen. Und immer wieder rauf zur Hartmannsweiler Kopf für ein Schwätzchen mit Helga.

Das geht in diesen Jahren alles ohne Verabredung. Aufkreuzen, klingeln und schauen, ob’s paßt. Ein Telefon braucht für so was keiner.

 

Zuhause ist die Lage nicht so locker. Peter ist zwar tagsüber ein ruhiges, friedliches Baby. Aber nachts, wenn alle schlafen wollen, gibt’s Geschrei ohne Ende.

Eines Nachts springt Kurt in einem Moment schierer Verzweiflung vom Schlafsofa auf. Marschiert durch die Dunkelheit in die Küche zu Peters Bettchen, um ihn dort mit ein paar netten Worten zu beruhigen. Weil das nicht klappt, verpaßt ihm der Idiot einen Satz kräftige Schläge auf den Hintern. Das Kind schreit nun noch lauter, wie nicht anders zu erwarten. Also gibt Kurt auf und verzieht sich zurück aufs Sofa. Er beißt die Zähne zusammen.

Um am nächsten Tag bei Licht festzustellen, daß Betten, Tapete und Hände mit braunen Flecken übersät sind. Wie nach einem Angriff mit der Scheißekanone.

Nein, Kurt hat von Anfang an kein glückliches Händchen mit seinem Sprößling. Er mag ihn nicht einmal auf den Arm nehmen.

Stattdessen will er den Sohnemann eines frühen Morgens aus dem Fenster werfen, weil der schon wieder die Nacht zum Tage gemacht hat. Ok, ist nur eine bittere Theaternummer und seine Art von Schwarzem Humor, aber seine Nerven liegen auf jeden Fall blank. Keine Chance abzuhauen aus dieser engen Welt, in der nicht nur das Vögeln eine verdammt komplizierte Operation ist.

Aber es ja ist nicht mehr lang hin bis zum Wochenende. Hanni Petzold und Rudi Becker locken am Horizont.

 

In Annis kleiner Welt gibt es keinen Horizont und kein Wochenende. Und keine Waschmaschine. Anni ist die Waschmaschine. Die beiden Kinder scheißen und pissen täglich um die Wette, und Pampers-Windeln aus Zellstoff sind noch nicht erfunden. Anni kennt nur Windeln aus Leinen, die sie nach Gebrauch zunächst mit der Hand auswäscht.

Klingt lecker, aber sie macht sich darüber keinen Kopf. In Lünnerode hat sich auch niemand angestellt wegen ein bißchen Scheiße.

Die vorgewaschenen Windeln kocht Anni in einem großen Aluminiumtopf. Den hat ihr Kurts Mutter geschenkt. Am heißen Kohleofen wird alles getrocknet, was auf dem Wäscheständer landet. Die Bettwäsche etwa, die alle vier Wochen zusammen mit Kurts Arbeitskleidung in einen mächtigen Kessel im Keller kommt. Oder der ganze Kleinkram, den Anni auf halber Treppe im Toilettenraum mit der Hand wäscht. In der Wohnung gibt es ja weder Becken noch fließend Wasser. Das muß sie zuerst von der Toilette holen und im Topf auf dem Herd erhitzen. Anschließend geht es damit wieder runter, um die Wäsche im handwarmen Wasser zu walken und zu rubbeln, bis sie sauber ist. Dank Omo!

Anni findet das normal. Alle Frauen und Mütter machen das so. Na gut, die Reichen sicher nicht. Die haben ihre eigenen Annis, die Scheiß und Schweiß von ihnen fernhalten.

Immerhin hat Anni ihren Kurt. Der gibt ihr wenigstens ein bißchen Sicherheit und ist zweifellos ein lieber Kerl. Aber einer mit Pferdefuß. Denn Saufen ist sein bester Freund, und viel muß es sein. Jedes Wochenende, über all die kommenden Jahre, bis an körperliche, geistige und finanzielle Grenzen.

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