Nr. 70

Munsters

aus »Schlund«, 2018

Das Telefon klingelte. Ich kannte die Nummer, griff das Handy, klick, meine Mutter war dran. Sie rief gerne um diese Zeit an.

»Guten Morgen, Peter. Hast du Besuch, störe ich?«

»Morgen.« Sie wäre niemals auf die Idee gekommen, mich ›Karl‹ zu nennen. Na ja, sie war meine Mutter. Meinen Punk-Spitznamen hatte sie von Anfang an ignoriert. »Nein, du störst nicht. Ist nur der Fernseher. Ich bin allein.«

»Habe ich dich geweckt?«

»Wann hast du mich das letzte Mal geweckt? Mit fünfzehn? Außerdem ist es bald neun.«

»Ist alles gut bei dir? Hasse Arbeit?«

»Ja. Wie immer.«

Das ging glatt über meine Lippen. Oh Mama, warum stellst du solche Fragen? Der Job … musst du mich daran erinnern? Ich hatte keine Ahnung, ob ich jemals wieder eine Codezeile gebacken bekam. Die Kohle wurde langsam knapp, weil ich seit Monaten nichts Brauchbares ablieferte. Für einen Freiberufler tödlich.

»Was ist mit deinem Buch?«, bohrte sie weiter. »Wir sind ja alle ganz gespannt. Irgendwann musst du ja mal zu Potte kommen. Wir wollen das noch erleben!«

Da hatte sie mich am Haken. Seit Jahren erzählte ich davon, ein Buch zu schreiben. Und wenn es mir eines Tages gelingen sollte, das Gewirr aus Erinnerungen, Verpflichtungen, Rücksichtnahmen und Gefahren zu entflechten und so weit zu ordnen, dass sich damit eine Geschichte erzählen ließ, dann würde meine Mutter ihr Buch kriegen. Aber noch war es nicht soweit, da musste ich lügen.

»Bis Jahresende bin ich fertig. Ist ’ne Menge Arbeit.«

Mannomann, wie ich mich schämte! Und kippte Benzin ins Feuer: »Ich sitze gerade jetzt dran und habe noch die eine oder andere Frage zu deiner Kindheit in Lünnerode. Du hörst von mir in den nächsten Tagen. Ich rufe dich an.«

Don’t call me, I’ll call you. Ob sie merkte, dass ich versuchte, sie durch die Blume abzuwürgen?

»Gut. Aber ich lege jetzt lieber auf, damit du weiterarbeiten kannst. Und ich soll dir herzliche Grüße von Siegfried ausrichten!«

Das unvermeidliche Ritual, ich sagte auch mein Sprüchlein auf: »Tschüs. Und grüß ihn zurück!«

Wir legten auf.

 

Ich saß noch eine ganze Weile da. Das Buch. Ich hatte es meiner Mutter versprochen, warum nicht heute daran arbeiten? Scheiße noch mal, irgendwie muss das Buch vom Himmel fallen! KackenkackenkackenTITTENFACK! SHIT!

Es war allerdings fraglich, ob mit meiner Schreibe ein Bestseller zu schmieden war. Einer von der Sorte, die mich aus dem Bunker heraus und in Talkshows hinein brachte. Lesereisen, Buchmesse, das ganze Programm. Das neue Leben. Jenseits von Oberbarmen allen zeigen, dass ich es noch drauf hatte und AUF KEINEN FALL DIE FRESSE HALTE!

Womit ich mir eine Menge vorgenommen hatte. Vielleicht zu viel.

Ich befürchtete schon länger, dass mir die fürs Bücherschreiben nötige Mischung aus Disziplin und Niveau fehlte. Seit meiner Kindheit ergötzte ich mich an fix hingespritzter Schundliteratur, und angesichts dieser Vorbilder vermutete ich, nur literarisches Fast Food zustandebringen zu können.

Punk zementierte spät und dennoch gerade rechtzeitig meine Vorliebe für Minderwertiges; mit Kunst und Kultur stand ich auf Kriegsfuß. Niemals wollte ich mich in monatelanger Arbeit an einem Wälzer plagen – und schraubte seit fünf Jahren daran herum!

Nicht, dass erst ein paar Seiten fertig gewesen wären, im Gegenteil. Vor ein paar Tagen erst hatte ich meinem Mitbewohner David den Riesenstapel ausgedruckter Texte vor die Nase gehalten, doch der hatte sich nur über mich amüsiert.

»Dein Buch ist doch längst fertig«, behauptete er. »Pack es zwischen zwei Pappdeckel, und du hast eins! Ein richtig dickes!«

Klugscheißer. Aber irgendwie hatte er recht. Ich wollte kein Buch schreiben. Ich wollte es geschrieben haben. Etwas in dieser Art hatte Stephen King mal gesagt. Der Mann kannte sich aus, ein Arschloch!

Mein ungeschriebenes Buch, das bislang nur eine Sammlung ungeordneter Erinnerungsfetzen war, lag auf dem Schreibtisch und wartete darauf, dass irgendwer die Wirrnis beseitigte. Das erste Blatt ein Schmierzettel mit der Überschrift »Im KZ«. Notizen von Ereignissen, die lange zurücklagen.

Nein, es ging nicht um die Nazi-Zeit – sondern um den Sommer 1964, der mir für alle Zeit den Appetit verdorben hatte. Ich war dreieinhalb und wurde nach Gachau in ein katholisches Kinderheim verschickt – »in die Ferien«, wie es hieß.

Gachau, das ist für mich zu Albträumen geronnene pure Angst. Ein Fahnenmeer vollgeschissener Unterhosen, ein Mix aus Hetzjagden, Ohrfeigen und Zwangsfütterung – warum taten Menschen einander so etwas an? Was trieb sie dazu, sich in Bestien zu verwandeln? Und was wurde aus Gachau? Im Internet hatte ich wenig darüber gefunden. Ob ich meine persönliche Folterstätte wiedererkennen würde? Tief genug eingegraben war sie ja – ein Gedanke an Gachau reichte, damit es sofort »Dachau« im Kopf machte.

Als sich hunderte Kinder in meiner Vorstellung zu Leichenbergen aufzutürmen begannen, blieb mir keine Wahl; ich schaltete den Fernseher aus (das Morgenmagazin hatte mich mittlerweile zweieinhalb Stunden zugequasselt), eine halbe Minute später lag Cotzbrocken auf den Plattenteller: »Ich weiß ’nen Platz, wo ich hingehör’ – KZ!«

Zu dieser Musik zu tanzen – auf so eine Idee wäre ich nie gekommen. Bewegungslos ließ ich das unmusikalischste und stumpfeste Punk-Gerumpel aller Zeiten über mich ergehen und träumte davon, warmes Nonnenblut zu trinken. Als Zombie, nicht als Graf Dracula.

Nach einer Weile ertrug ich den Stumpfsinn nicht länger und riss den Tonarm von der Scheibe, was diese mit einem empörten Quietscher kommentierte. Aber immerhin war ich wieder im Jetzt; bereit, den Kampf aufzunehmen.

 

Ich holte die mit »Antikes« beschriftete Kiste aus dem Regal und breite einen Stapel vergilbter Familienfotos auf dem Tisch aus. Verschollene Erinnerungen an die Oberfläche befördern, der Buchproduktion Feuer unterm Arsch machen!

Einmal kam in so einer Situation David hereingeschneit. Ohne zu zögern, zeigte er auf ein Foto, auf dem die ganze Familie abgebildet war, lachte und sagte: »Die deutsche Ausgabe der Munsters!«

David war 27, seit rund zwei Jahren wohnte er bei mir. Ein sportlicher Bursche mit Iro, der gerne meine alte Punkjacke auslieh und Gitarre in einer Rostocker Band spielte. Ein Punk? Keine Ahnung, das hatten wir nie geklärt.

Erstaunlich, dass er die Munsters kannte – die meisten Leute seines Alters hätten nur mit den Achseln gezuckt. Nicht ungewöhnlich bei einer Horror-Comedyserie im Schwarzweißlook uralter Universal-Schauerfilme à la Dracula und Frankenstein. Bela Lugosi und Boris Karloff ließen grüßen.

In den USA liefen The Munsters von 1964-66, bei uns erst ab 1988. Da war David nicht mal angedacht.

»Hab’ von denen ein Video bei Facebook gesehen. Mächtig angestaubt!«, sagte er.

»Klar. So angestaubt wie das Familienfoto! Gegen uns wären die Amis ein lahmes Bauerntheater gewesen! Wir hatten eindeutig mehr Horror-Potential! Bekloppter waren wir auch.«

Ich stelle mir vor, wie sich Die Altenburgs im Fernsehen gemacht hätten. Als deutsche 60er-Jahre-Arbeiterfamilie, in der nicht die Beatles, Rudi Dutschke oder die Munsters »Guten Tag« sagten, sondern Wicküler Bier und Bill Ramsey. »Der schönste Platz ist immer an der Theke« hätte als Titelmelodie für unsere Familienserie gepasst.

Das wäre eine feine Proletentragödie in Alk geworden: ein Familienvater mit der Kneipe als zweitem Zuhause. Die Mutter, die erfolglos versucht, die Kohle zusammenzuhalten, damit der Alte sie nicht versäuft. In Nebenrollen die Verwandtschaft, bei der die eine Hälfte auch nichts anbrennen lässt – und die andere Hälfte pflichtbewusst auf dem Lande ihrem Tagwerk nachgeht und vor den Mahlzeiten betet. Mittendrin meine Schwester, die Straßengöre und natürlich ich, der Hosenscheißer, der seine Mama anhimmelt, aber auf Abstand zu Papas Bierfahne bleibt.

Für Leute wie uns wäre kein Platz bei ARD oder ZDF gewesen. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis mit Ekel Alfred erstmalig ein deutscher Asi im Feinripp-Unterhemd sein »Ihr Arschlöcher!« in die Welt hinausbrüllen durfte.

Just als die Munsters zum ersten Mal über die Mattscheiben amerikanischer TV-Zuschauer spazierten und die Welt dem ermordeten John F. Kennedy nachjammerte, erwachte ich als Peter Altenburg auf einem anderen Planeten. Dort interessierte es niemanden, dass mit den Rolling Stones gerade der Gegenwurf der Beatles die Bühne betreten hatte. Mich auch nicht.

Pilzköpfe, Sex, Rock ’n’ Roll, Polit-Rock, Folk, Soul – in den Kneipen, in denen mein Vater sich unter den Tisch soff, waren solche Unterschiede ohne Bedeutung – »Alles Negermusik!«

Wir waren das Volk, die Normalen – die Beatles-Jäh-Jäh-Jäh-Typen arbeitsscheue, langhaarige Nichtsnutze.

Dass die Normalen am Ende einer durchzechten Nacht bisweilen auf allen vieren durch die Gegend krochen, bekam ich noch nicht mit. Auch nicht, dass sie sich im Suff gegenseitig die Fresse blutig schlugen. Auf welch armselige und deprimierende Weise viele ihre Geschlechtsteile ineinanderschoben, konnte ich erst recht nicht ahnen.

Es war die gute alte Zeit des Jahres 1964. Ein Jahr, in dem mit der »Nationaldemokratischen Partei Deutschlands« die politische Speerspitze alter Kameraden und ehemaliger NSDAP-Parteigenossen gegründet wurde. Die hielten die 60er für eine ausgesprochen verkommene und undeutsche Zeit. Sie hätten lieber eine andere gute alte Zeit zurückgehabt. Wobei sie sich darüber ausschwiegen, wann genau es am schönsten war. So rein jahresmäßig.

2017 schwärmten die NPD und sonstige Rechtsausleger noch immer von der guten alten Zeit. Die sie nun in den 60ern verorteten. Ausgerechnet! Dabei hatte ich schon in meiner Kindheit die Schnauze voll von diesem angeblich märchenhaften Jahrzehnt. Wortwörtlich. Und ganz ohne Ausländer

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