Nr. 64

Kapitulieren, aber wie?

aus »Schlund«, 2018

Bunker hin oder her, ich war nicht wie Hitler, ich hätte gerne kapituliert, aber das war so eine Sache. Wie kapituliert denn jemand, der weder säuft noch Drogen nimmt?, grübelte ich. Vielleicht, indem ich aufstand, die Arme hob und sagte: »Sorry, Merkel, ich bring’s nicht! Ich gebe auf. Ich bin bereit für den Abtransport ins Kriegsgefangenenlager. Erschießungskommando ist auch ok.«

Nee, so lief das nicht. Den Job hätte ich schon selbst erledigen müssen: Aus dem Fenster springen, mir die Kugel geben, vor die S-Bahn hechten. Mich in ein Stück blutiges Hackfleisch verwandeln, das der Tatortreiniger fein säuberlich in Plastiktüten verpackt und danach in der Kühlkammer ablegt.

Eine Kapitulation dieser Sorte passte nicht zu mir. Ich wollte nicht tot sein. Jedenfalls nicht, solange es noch Currywürste und Perry Rhodan gab. Genausowenig wie ich Bock auf eine So-tun-als-ab-Nummer hatte. Wie mein Vater, als er sich im Degowski-Stil die Gasknarre in den Mund schob, um mich Achtjährigen zu beeindrucken. Zuletzt hatte ihm der Mumm gefehlt, seinen Amoklauf durchzuziehen. Lieber soff er sich ins Grab.

Wie konnte ich sonst die Waffen strecken? Hals über Kopf türmen und am Arsch der Welt abtauchen – ein letztes Punk-Abenteuer in Nordkorea erleben, bis Kim mir das Lebenslicht ausblies?

Oder eher so: Wohnung kündigen, alles verschenken, was ich nicht brauche. Dann zurück nach Wuppertal-Oberbarmen. In den Klotz, in dem ich aufgewachsen bin. Darin eine 25-Quadratmeter-Butze für 250 Euro anmieten, wie 1980. Matratze, Tisch, Stuhl und so viele Schundhefte, wie in den Keller hineinpassen.

Eine asketische Umgebung: kein Fernseher, kein Handy, kein Telefon! Ok, ein Computer, um ein paar Erinnerungen niederzuschreiben, aber ohne Internet.

Der Artilleriebeschuss der Welt verstummt, die Stimmen auch. Ruhe. Ich bin wieder ein Niemand mit Brille, kriege nichts mehr mit vom Geschrei, das die Menschen in den Wahnsinn treibt.

Ich suche mir einen Job oder lebe von Hartz IV. Lese 3000 Perry-Rhodan-Hefte noch mal von vorn. Vielleicht lege ich mir einen Hund zu, einen Terrier, der heißt dann Gucky, und wir gehen mehrere Male täglich um den Block. Bald weiß Gucky, wo ich zur Schule gegangen bin und die erste Zigarette geraucht habe, kennt den Asi-Treff am Berliner Platz.

Mittags gehe ich zu Hähnchen Helmig und esse eine doppelte Currywurst mit Pommes und Mayo. Abends schaue ich aus dem Fenster und beobachte die vorbeifahrenden Schwebebahnen. Wundere mich, dass sie es geschafft haben, das ohrenbetäubende Quietschen der Bahnräder in ein erträgliches Wummern und Rattern zu verwandeln. Blicke auf den Hinterhof, auf dem schon lange keine Kinder mehr spielen. Nie wird mein Mittagsschlaf durch Kreischen, Brüllen und Weinen gestört. Nur Gucky quengelt gelegentlich, dann heißt es Gassi gehen.

Ab und zu begegne ich auf der Straße alten Bekannten. »Na, Peter, bisse wieder im Tal?«, fragen die dann. »Ja«, werde ich antworten. »Meine Expedition in die Welt ist beendet. Ich bleibe jetzt hier, für immer.«

Wenn ich am Grünstreifen der Wupper sitze, an der Rosenau, beobachte ich Gucky beim Spielen. Ich werde mich an Rehwald erinnern. Wie er im Anzug auf einer Bank saß und auf den vorbeirauschenden Fluss starrte, in der Hand den neuen Rhodan-Roman. Ich kannte ihn aus der Kneipe meiner Eltern; er war Mitte vierzig und führte meistens eine abgewetzte, braune Aktentasche aus Leder mit sich. Rehwalds kleine, blaue Augen blickten mich sentimental und leidend an. Aus einer Entfernung von einer Million Lichtjahren suchten sie Kontakt zu mir.

»Die Frauen wollen keinen fleißigen, ordentlichen Arbeiter wie mich«, hatte er genuschelt. »Einen, der sie lieb hat und ihnen jeden Wunsch von den Augen abliest. Sie wollen ungewaschene Typen, die das Geld versaufen. Die nicht arbeiten, sondern zuschlagen, wenn die Frau nicht pariert. Ich verstehe die Welt nicht.«

Ich war erst dreizehn, als ich ihn so reden hörte, aber schon damals erschien mir dieser Abgrund mit Mundgeruch schauriger als jeder Grusel-Krimi.

So kann’s enden, hatte ich gedacht und eine Vision gehabt: Vielleicht würde ich ja eines Tages wie Rehwald hier sitzen und nicht verstehen, was die Welt mit mir anstellt – so war das eben, wenn das Feuer ausging.

»SCHEISSE, NEIN!«, schrie ich und beendete die Filmvorführung.

Eine Kapitulation kam nicht in Frage. Dann lieber Anwalt mal Axt sein lassen, bei McDonalds einen blutigen Job abliefern und hinterher von den Bullen abgeknallt werden. Die nächstbeste Fußgängerzone würde auch reichen. Ein paar Dutzend Unschuldige killen, toll, Karl! Haben die Aliens dir das eingeflüstert?

Ich fühlte mich ertappt. Die von mir ausgesuchten Ziele waren ja wie ich Opfer der Angriffe aus dem All, der Invasion. Sie abzuschlachten, um Dampf abzulassen, wäre eine armselige Nummer.

Um die schwarzen Gedanken zu verjagen, bestellte ich eine Pizza. Salami, Schinken, extra Käse.

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