Die gute alte Zeit
Als die Welt noch in Ordnung war
Ich holte die mit »Antikes« beschriftete Kiste aus dem Regal und breite einen Stapel vergilbter Familienfotos auf dem Tisch aus. Verschollene Erinnerungen an die Oberfläche befördern, der Buchproduktion Feuer unterm Arsch machen!
Einmal kam in so einer Situation David hereingeschneit. Ohne zu zögern, zeigte er auf ein Foto, auf dem meine ganze Familie abgebildet war, lachte und sagte: »Die deutsche Ausgabe der Munsters!«
David war 27; ein sportlicher Bursche mit Iro, der gerne meine alte Punkjacke auslieh und Gitarre in einer Rostocker Band spielte. Ein Punk? Keine Ahnung, das hatten wir nie geklärt. Seit rund zwei Jahren wohnte er bei mir, und nun, da er irgendwo auf Rügen verrottet, vermisse ich ihn und die lockeren Wortgefechte, die wir uns gelegentlich lieferten.
Erstaunlich, daß er die Munsters kannte – die meisten Leute seines Alters hätten nur mit den Achseln gezuckt. Nicht ungewöhnlich bei einer Horror-Comedyserie im Schwarzweißlook uralter Universal-Schauerfilme à la Dracula und Frankenstein. Bela Lugosi und Boris Karloff ließen grüßen.
In den USA liefen The Munsters von 1964-66, bei uns erst ab 1988. Da war David nicht mal angedacht.
»Hab’ von denen ein Video bei Facebook gesehen. Mächtig angestaubt!«, sagte er.
»Klar. So angestaubt wie das Familienfoto! Gegen uns wären die Amis ein lahmes Bauerntheater gewesen! Wir hatten eindeutig mehr Horror-Potential! Bekloppter waren wir auch.«
Ich stelle mir vor, wie sich Die Altenburgs im Fernsehen gemacht hätten. Als deutsche 60er-Jahre-Arbeiterfamilie, in der nicht die Beatles, Rudi Dutschke oder die Munsters »Guten Tag« sagten, sondern Wicküler Bier und Bill Ramsey. »Der schönste Platz ist immer an der Theke« hätte als Titelmelodie für unsere Familienserie gepaßt.
Das wäre eine feine Proletentragödie in Alk geworden: ein Familienvater mit der Kneipe als zweitem Zuhause. Die Mutter, die erfolglos versucht, die Kohle zusammenzuhalten, damit der Alte sie nicht versäuft. In Nebenrollen die Verwandtschaft, bei der die eine Hälfte auch nichts anbrennen läßt – und die andere Hälfte pflichtbewußt auf dem Lande ihrem Tagwerk nachgeht und vor den Mahlzeiten betet. Mittendrin meine Schwester, die Straßengöre und natürlich ich, der Hosenscheißer, der seine Mama anhimmelt, aber auf Abstand zu Papas Bierfahne bleibt.
Für Leute wie uns wäre kein Platz bei ARD oder ZDF gewesen. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis mit Ekel Alfred erstmalig ein deutscher Asi im Feinripp-Unterhemd sein »Ihr Arschlöcher!« in die Welt hinausbrüllen durfte.
Just als die Munsters zum ersten Mal über die Mattscheiben amerikanischer TV-Zuschauer spazierten und die Welt dem ermordeten John F. Kennedy nachjammerte, erwachte ich als Peter Altenburg auf einem anderen Planeten. Dort interessierte es niemanden, daß mit den Rolling Stones gerade der Gegenwurf der Beatles die Bühne betreten hatte. Mich auch nicht.
Pilzköpfe, Sex, Rock ’n’ Roll, Polit-Rock, Folk, Soul – in den Kneipen, in denen mein Vater sich unter den Tisch soff, waren solche Unterschiede ohne Bedeutung – »Alles Negermusik!«
Wir waren das Volk, die Normalen – die Beatles-Jäh-Jäh-Jäh-Typen arbeitsscheue, langhaarige Nichtsnutze.
Daß die Normalen am Ende einer durchzechten Nacht bisweilen auf allen vieren durch die Gegend krochen, bekam ich noch nicht mit. Auch nicht, daß sie sich im Suff gegenseitig die Fresse blutig schlugen. Auf welch armselige und deprimierende Weise viele ihre Geschlechtsteile ineinanderschoben, konnte ich erst recht nicht ahnen.
Es war die gute alte Zeit des Jahres 1964. Ein Jahr, in dem mit der »Nationaldemokratischen Partei Deutschlands« die politische Speerspitze alter Kameraden und ehemaliger NSDAP-Parteigenossen gegründet wurde. Die hielten die 60er für eine ausgesprochen verkommene und undeutsche Zeit. Sie hätten lieber eine andere gute alte Zeit zurückgehabt. Wobei sie sich darüber ausschwiegen, wann genau es am schönsten war. So rein jahresmäßig.
2017 schwärmten die NPD und sonstige Rechtsausleger noch immer von der guten alten Zeit. Die sie nun in den 60ern verortete. Ausgerechnet! Dabei hatte ich schon in meiner Kindheit nicht nur wegen Gachau die Schnauze voll von diesem angeblich märchenhaften Jahrzehnt. Wortwörtlich. Und ganz ohne Ausländer.
Meine 60er bestehen aus Kneipen, Zigaretten und Bier. Das magische Getränk. Wenn ich eine Bierflasche auf den Tisch stelle und sie eine Weile anschaue, dann weiß ich, daß da nicht nur eine Flasche steht. Die sie umgebende teuflische Aura wahrzunehmen, das ist mein Privileg. Giftige Schlieren greifen nach mir, sagen: Wo du auch hingehst, ich bin überall!
Ich könnte die Flasche gründlich ausspülen und desinfizieren und mit meinem Lieblingsgetränk füllen – ich würd’s nicht trinken, um nichts auf der Welt! Eine Flasche, die als Bierflasche daherkommt, ist kontaminiert und verseucht mit den übelsten Erregern, die Alpha Centauri zu bieten hat. Durch nichts zu reinigen. Auch nicht durch Zaubersprüche aus dem »Herrn der Ringe«. Setz’ mir ’ne Bierpulle an den Hals – und ich werd’ zum Hulk!
Nichts ekelt mich mehr an als eine Flasche Bier – speziell die braune 0,5-Liter Glasflasche! Der Klassiker. Wenn ich mit geschlossenen Augen ihre Form abtaste, kriechen die Leichen der Vergangenheit aus ihren Gräbern. Besonders eine Leiche. Unrasiert, mit gelben Fingern und Wicküler-Fahne. Und ich weiß nicht mehr, ob ich kotzen, heulen oder alles kaputtschlagen soll.
Ich war der Laufbursche meines Vaters.
»Peter, hol ’ne Flasche Bier!«
Und schon marschierte ich in die Küche! Bloß fix die Pulle raus aus dem Kühlschrank und ab damit ins Wohnzimmer, hinein in Papas ausgestreckte Hände! Der fackelte nicht lange: Zosch, mit dem Flaschenöffner den Kronkorken runter und das kühle Naß rein in die Kehle! Jeder Schluck begleitet von einem starren, hypnotisierten Blick auf die Flasche.
Bei Biernotstand mußte ich für Nachschub sorgen. Aus Pommesbude, Kneipe oder von Edeka.
»Bring ’ne Packung HB mit! Und nicht vergessen, die Leeren mitnehmen!«
Scheiße, da hatte ich noch weniger Lust drauf!
Mit Spitzfingern die ausgetrunkenen Pullen in die Plastiktüte hinein, schön aufrecht nebeneinander, damit ja kein Rest auslief. Allein die Vorstellung war bäh! Dann schnell mit der bollernden Tasche zum Laden oder in die Kneipe. Das Leergut auf den Tresen, die Finger, doch naß geworden, an der Hose abgewischt. Das bedeutete Stinkehände, Mist!
»Zwei kalte Flaschen Wicküler Export und eine Packung HB!«, plärrte ich mein Sprüchlein. Oder es ging ohne, und der Ladeninhaber grinste mich vielsagend an: »Wie immer?«
Dann nickte ich nur.
Und ab nach Hause.
War das Bier nicht kalt genug, kam es für eine halbe Stunde unter den laufenden Wasserhahn. Während sich mein Vater dauernd mit der Zunge über die Lippen fuhr.
Ok, ich bekam ab und zu zwanzig Pfennig vom Restgeld, aber diese »Bezahlung« ließen mir Bier und Zigaretten nicht sympathischer erscheinen.
Glasiger Blick, Bartstoppeln, maskenhaftes Lächeln und Bier. So habe ich meinen Vater in Erinnerung.
»Ihr seid das Liebste, das ich habe!«
Dann eine Umarmung, in meiner Nase der Mix aus HB und Wicküler, Luft anhalten, Augen zu.
Wie komme ich hier raus?
Und wieder einmal stand ein Botengang mit Bier und Zigaretten an, Papas Leibgericht mußte her, unser täglich Brot gib uns heute. »Sind so kleine Biere, sind so schnell dahin«, wie es bei Daily Terror 13 Jahre später so treffend hieß.
»Aber es geht wirklich nicht!«, bettelte ich.
Meine Hose hatte beim Spielen was abbekommen. Sie rutschte bei jedem Schritt, weil ein Knopf fehlte und der Reißverschluß kaputt war.
»ABMARSCH, LOS!«, brüllte mein Vater und schob mich in die Küche, wo das Leergut gebunkert war.
Es half kein Jammern und kein Weinen, ich mußte los.
Also die Flaschen wie gehabt vorsichtig in die Tüte, damit ich nicht mit Bierresten in Berührung kam, und ab zur Pommesbude. In der einen Hand die schwere Tüte, die andere den Hosenbund umklammernd. Die Vorstellung, die Hose könnte meinen Fingern entgleiten, jagte mir eine Heidenangst ein. Ich stünde auf der Straße in Unterhose da! Und alle würden mich auslachen!
Der Höllenritt zu Hähnchen Helmig plus Rückweg dauerte höchstens eine Viertelstunde – ich empfand ihn so lang wie eine Schwebebahnfahrt nach Südafrika. Und schwor, nie so zu werden wie mein Vater und niemals Bier zu trinken! Unverrückbar, für ewig.
Gefangen in der eigenen Kindheit, bleiben nur Helden, die einen Ausweg versprechen, bleibt nur die
FLUCHT IN DEN SCHUND
Schon bald bei HACKFLEISCH!