Nr. 181

Der Superspinner aus der Steckdose

Es hilft nichts, Mutti muß ran!, dachte ich eines Nachts, als ich nicht zum ersten Mal hellwach im Bett lag und der Schlaf nicht kommen wollte. Weil tagsüber nichts geschehen war, das mich erschöpfen konnte.

Der Gedanke gefiel mir eindeutig besser, als meine Kindheit von einem Berufssachverständigen auseinandernehmen zu lassen. Der hätte mir eh nichts Neues erzählen können.

Ich wußte ja längst, warum ich zur lebenden Bombe geworden war, die mit Leichtigkeit jedes gemütliche Beisammensein sprengen konnte. Um meinen Eruptionen auf den Grund zu gehen, grub ich mich seit Jahrzehnten durch meine Vergangenheit. Auf mittlerweile Tausenden Blättern, Schmierzetteln und in ebensovielen Dateien hatte ich Erinnerungen und Reflexionen zusammengetippt oder handschriftlich notiert.

Bei der Erforschung meiner Vergangenheit lief ich keineswegs durch Nebelschwaden und auch nicht durch ein Labyrinth. Es gab keine blinden Flecke, nichts, was ich verdrängt hatte. Mich mußte niemand darüber aufklären, was der Suff meines Vaters in unserer Familie und auch in meinem Oberstübchen angerichtet hatte.

Jeder Therapeut wäre an mir verzweifelt, weil es bei mir nichts auszugraben gab, der ganze Dreck lag auf dem Tisch, und ich konnte darüber sprechen.

Das kann nicht jeder von sich sagen – bei manchen Leuten ist alles weg vor dem Tag, an dem sie ihren Führerschein gemacht haben. Dem ersten Sex oder Bier. Eine Liste, die man endlos verlängern könnte. Die Jahrzehnte (und die Biere, die dem ersten folgten!) haben ihre Spuren hinterlassen; das Zelluloid bröselt dahin.

Ich konnte mich also glücklich schätzen, alle wesentlichen Filmrollen lagen gutsortiert in meinem Gedächtnis abrufbereit parat, ich hätte tagelang über Kindheit und Jugend referieren können. Trotzdem war ich sicher, daß Entscheidendes fehlte, der missing link.

In meinen Superheldencomics war die Sachlage immer recht eindeutig: Der kleine Kal-El landet mit einer Rakete auf der Erde, um hier dank der gelben Sonne Superkräfte zu erlangen und als Superman Verbrechern entgegenzutreten. Peter Parker wird von einer radioaktiven Spinne gebissen und zu Spider-Man. Bruce Banner läuft durch ein Gammastrahlen-Gewitter und kloppt sich seitdem als Gewaltiger Hulk durch die Gegend.

In den Ami-Heftchen heißt so eine Geschichte »Origin«, auf deutsch würde man sagen: »Wie alles begann!« Ist allerdings nicht ganz korrekt, denn an die ersten Lebensjahre kann sich keiner erinnern. Die Filme fürs Kopfkino sind nicht aufzutreiben, für immer verloren, so wie bei mir. Was für ein Jammer!

Richtig spannend wird es aber erst bei den Geschehnissen vor der Geburt! Dem »Prequel«. Der eigentliche Grund, warum alles genau so und nicht anders kam. Weshalb man überhaupt auf der Welt ist!

 

Eine zeitliche Grenze, die aus eigener Kraft nicht zu überwinden war. Wenn es mir jedoch gelang, diese allerletzten Puzzleteile aufzutreiben, dann würde ich wenigstens verstehen, warum mir der Hirntod drohte. Davon war ich überzeugt. Und wer weiß, vielleicht würde es mir sogar einen Weg heraus aus dem Dilemma aufzeigen!

 

Drei Tage später saß ich im Intercity nach Wuppertal. Auf dem Weg zu meiner Mutter, mit der ich gleich am nächsten Morgen einen Interviewtermin arrangiert hatte. Ich konnte nur hoffen, daß sie ihre mentale Schatztruhe öffnen und einige angestaubte Juwelen ans Tageslicht holen würde, die Energiequelle für meine Zeitmaschine - besser als Dilizium-Kristalle der Enterprise! Für die Forschungsreise in mein Unterbewußtsein, die Suche nach dem Stein der Weisen. Ich wollte leben, ohne Ärmelschoner, und auch nicht als Wrack dahindämmern. Die Chemie verstehen lernen, die mich zu dem machte, was ich war.

Die Bahnfahrt gestaltete sich anders als in früheren Jahren. Der Zug war eher leer, die Fahrgäste trugen Maske und redeten kein Wort miteinander. Wahrscheinlich hätte sie am liebsten den Wagen oder gleich den ganzen Zug für sich allein gehabt.

War mir recht, so hatte ich meine Ruhe und konnte mich nicht in überflüssigen Gesprächen echauffieren und mein Resthirn gefährden. Stattdessen wollte ich mich während der IC-Fahrt auf das Gespräch mit meiner Mutter vorbereiten und holte den Laptop aus dem Rucksack.

Vom Sitz hinter mir dann doch Geräusche, wie sie bislang eigentlich in Bussen und Bahnen üblich waren: Eine Frau belaberte irgendwen per Handy mit Tipps zu Geldanlage, Immobilien und dergleichen. Ich verstand wenig oder wollte auch nichts verstehen. Weshalb es mir gelang, das Finanzgeschwätz auszublenden. Die alten Familienfotos auf meinem MacBook schlugen mich mehr in den Bann als eine Anlageberatung.

Mir wurde gleich anders. Nostalgiedebilität quoll empor und vernebelte meine Sinne – schön war's damals, oder? Zurücklehnen, Hände in die Hosentaschen, laut seufzen: »Das waren Zeiten! Männer waren noch Männer und Frauen Frauen!« Zumindest könnten einem derartige Gedanken kommen, wenn man sich das Hochzeitsfoto meiner Eltern anschaut (mit meinem oberlässigen Onkel Rolf und seinem Bruder als Trauzeugen). Da sahen alle aus wie berühmte Filmschauspieler. Ok, nicht in der gleichen Liga wie Sean Connery und Marilyn Monroe - aber für einen B-Film oder einen Lemmie-Caution-Streifen hätte es schon gereicht. Typen wie Eddie Constantine erschienen mir realistischer als die Hollywood-Bande. Aus meinem Leben gegriffen, meinem Film.

In den Hauptrollen: Kurt Altenburg - oberkorrekt, ordentlich und gutgekleidet. Der hing selbst im Suff vor dem Zubettgehen stets seinen Anzug auf den Bügel.

An Pappas Seite seine Anni, die schönste Frau der Welt und die beste Mamma überhaupt – das sagen alle Jungs von ihrer Mutti, ich weiß!

 

Über die Jahrzehnte hatte ich viele Details recherchiert oder zusammengereimt: Aufgewachsen ist meine Mutter in Lünnerode, damals ein Kuhdorf im Emsland, heute leben dort knapp zehntausend Menschen. Ihr Vater war ein harter Knochen, geschnitzt in zwei Weltkriegen. Im ersten sogar als Freiwilliger bei der Marine.

Zuhause, im Dorf, bei der Arbeit, in der Familie, da wollte das mit dem Gleichschritt nicht klappen. Eine verwirrte und gebrechliche Frau, dazu drei Kinder und Arbeit bis zum Umfallen in der eigenen Fahrradwerkstatt – all das machte ihn hart und härter. Als mein Opa ins spe dann noch begann, an Autos rumzuschrauben, raffte ihn eine Herzgeschichte dahin.

Das war fünf Jahre vor meiner Geburt, und schon damals nannten alle meine Mutter »die Anni«. Obwohl sie ja eigentlich Anna Hermine heißt. Aber Annas gab’s viele im Dorf, und Hermine sollte erst wieder durch Harry Potter in Mode kommen.

Sie selbst hatte nie eine Mutter – zumindest keine im landläufigen Sinne. Keine Mamma. Da war nur diese irgendwie fremde Person, die meist still am Küchentisch saß oder von Zimmer zu Zimmer schlich. Bei der die ganze Familie achtgeben mußte, daß das Hausgespenst nicht zu weiterem Schaden kam. Nach der Geburt der Kinder hatte eine Epilepsie meine Oma zerschmettert. Unzählige Stürze und Verbrennungen am Ofen oder durch heißes Wasser hatten nicht nur äußerliche Narben hinterlassen.

Als ich darüber nachdachte, bekam das, was mir blühte, mit einem Mal ein Gesicht. So konnte es enden, wenn einem die Birne wegflog. Lagen die Ursachen meines drohenden Totalcrashs vielleicht irgendwo in der Familie verwurzelt? Das mußte doch herauszukriegen sein!

Annis Kindheit in Lünnerode war also kein Spaß. Kohlen schleppen, putzen, kochen, die Mutter versorgen, auf dem Bauernhof der Verwandten beim Schweineschlachten das Blut rühren, das war neben der Schule Annis Alltag.

Damit alles rund lief, gab's regelmäßig Prügel. Ihre beiden Brüder achteten darauf, daß die Familienehre gewahrt blieb – wehe dem Kerl, der einen Blick riskierte!

Bis sich Anni mit siebzehn per Fahrrad vom Acker machte. Sie wollte die Welt auf eigene Faust erkunden und raus aus dem ländlichen Mief.

Eine ihrer Exkursionen endete mit einem dicken Bauch. Nach der Geburt ihre Tochter Anne-Marie nach Lünnerode mitzubringen, das wäre keine gute Idee gewesen. Jedenfalls nicht ohne Ehemann im Gepäck. Da hatten die Familie und sonstige Verwandtschaft Klartext geredet.

In jenen Jahren galt die Kombination »alleinerziehende Mutter und uneheliches Kind« als Schande. Wie sollte sich die junge Frau um ihre Tochter kümmern, wo sie doch arbeiten mußte? Das sah auch das Jugendamt so und hatte Anne-Marie im Augustinerstift geparkt. Bei Nonnen. Nur am Wochenende konnte Anni ihre Tochter besuchen. Unter der Woche knüppelte sie sich durch ihre Billigjobs.

Die Lage war also ziemlich beschissen. Bis eines Tages Kurt Altenburg Annis Leben enterte.

 

Die Liebe meiner Eltern begann wie im Märchen und entpuppte sich als Groschenroman. Das Szenario ist jedem vertraut: Gutaussehender Mann lernt hübsche Bedienung kennen. In der Gastwirtschaft, im Café, an der Ladenkasse, egal. Der Kerl hat seine Ecken und Macken, säuft oder macht Ärger zu unpassenden Gelegenheiten. Sie weiß nicht, ob sie diesen Hitzkopf je zähmen kann. Als sich ein Baby ankündigt, fallen sich beide weinend und lachend um den Hals, und er macht auf Knien den fälligen Antrag. Verspricht, ein guter Ehemann zu werden.

So herbeiphantasiert in Wuppertal, der schwebebahngestählten Metropole des Bergischen Märchenlandes!

Jenseits der Leinwand spielten sich die Dinge anders ab, das hatte ich früh mitbekommen. Ich würde meine Mutter fragen, wie sich das Arbeitermärchen aus ihrer Sicht darstellte. Ob sie mit der Wahrheit herausrücken würde, war ungewiß. Im besten Fall konnten mich Ihre Schilderungen meinem Ausgrabungsziel um entscheidende Schritte voranbringen.

 

Als ich um kurz nach zwei in Wuppertal-Oberbarmen aus dem Zug stieg, betrat ich einen Ort, an dem mich Kindheitserinnerungen aus einer Trümmerlandschaft anstarrten.

Das alte Bahnhofsgebäude und damit mein Lieblingskiosk war schon vor Jahren plattgemacht worden. Die Quelle Hunderter Perry-Rhodan-Hefte, von Grusel-Krimis und Marvel-Comics. Von Zack und Popfoto. Jetzt stand da ein Neubau mit integriertem McDonald's und strahlte nichts als Langeweile aus. Davor lungerte ein Dutzend Schwarzköppe im Teenageralter herum und machte auf dicke Hose. Am Berliner Platz saßen normalerweise doppelt so viele Ältere – meist Junkies, Alkoholiker und Obdachlose. Deutsche Ruinen. In Zeiten von Corona hatten sie Schiß, bald statt einer Zigarette an einem Beatmungsschlauch zu saugen. Also nichts los auf dem Platz.

In der Berliner Straße war von den Geschäften meiner Kindheit nur noch eine Handvoll übrig. Stattdessen überall Glücksspiel, Dönerfutter und Billigläden. So ist das eben, wenn ein Stadtteil abkackt. Wer kann, haut ab. Bis irgendwann Türken und Araber unter sich sind. In Oberbarmen kamen noch Griechen hinzu, die bereits in den 70ern einen festen Platz in der Gastronomie erobert hatten.

Ein paar Minuten später vorbei an der ehemaligen Bauernstube, wo meine Eltern einst residierten, dann an Hähnchen Hilper, der Pommesbude, die meine Vorliebe für Junkfood prägte. Beides gehörte nun Griechen, nichts anderes war nach dem Ruhestand der Hilpers zu erwarten gewesen. Auf dem Ladenfenster stand immer noch »Hähnchen Hilper«, die neuen Besitzer hatten nicht nur das Geschäft gekauft.

Ich ließ mir die Gelegenheit für eine doppelte Currywurst mit Pommes nicht entgehen, zumal es eh noch Zeit totzuschlagen galt. Vor drei wollte ich nicht bei meiner Mutter klingeln, um ihren Mittagsschlaf nicht zu stören.

Während ich mich mit ungesundem, aber leckerem Futter vollstopfte, betrachtete ich durchs Fenster das Haus, in dem ich aufgewachsen war. Den Neubau-Klotz, der seit 50 Jahren mein Oberbarmen beherrscht. Kein monströser Plattenbau, trotzdem ein imperialer Blickfang in der Tristesse des Stadtteils. Als ich Wuppertal verließ, residierte im Erdgeschoß das Möbelhaus Döll – nun ein türkischer Gemüsehändler und ein Asiate mit Krimskrams. Meine Spielkameraden von einst waren in alle Winde zerstreut. Nach und nach hatten sie das Zentrum unseres Universums verlassen. Berger war einer der Ersten, der bereits Ende der 70er fortzog.

 

Ich checkte die rund 60 Klingeln und fand außer der meiner Mutter nur zwei, die ich kannte. Lediglich Frau Schlingensiepen und die Schmidts wohnten noch im Haus. Von meiner Mutter wußte ich, daß sich die Söhne des alten Schmidt um ihr Haus kümmerten. Der Vermieter hatte vor 20 Jahren das Zeitliche gesegnet, und seine Frau war mittlerweile derart gebrechlich, daß sie nur noch gelegentlich per Rollator eine Runde drehte, um jedem zu demonstrieren, daß sie die Lage an der Front im Griff hatte und durchgreifen konnte, falls irgendwer im Haus Fisimatenten machte.

Nachdem ich geklingelt hatte, öffnete sich die Glastür mit einem Brummen. Ich betrat das Haus, wie ich es unzählige Male zuvor getan hatte. Drinnen wartete die Vergangenheit. All die Treppen, Wände, Flure voller Geschichten.

Im Nu tummelten sich Sabine, Uwe, Ralf und all die anderen Kinder in den Gängen, als wäre die Zeit stehengeblieben. Der Aufzug öffnete sich, heraus schlich der alte Heckersbruch, der schon in den 70ern ein Greis war. Sogar mein toter Vater zog sich am Treppengeländer die Stufen hoch. Er grinste mich debil an, hob die Hand in Zeitlupe und hauchte mir ein stummes, rundes »Hallo« entgegen. Ich roch seine Bierfahne.

Die Fata Morgana verschwand, ich war ich endlich in der dritten Etage angelangt, im Westflügel, und meine Mutter stand schon im Türrahmen und strahlte mich an. Unglaublich, wie sie aussieht!, dachte ich. Mit 83 immer noch ein Energiebündel! Von weitem hätte man glauben können, sie sei kaum älter als ich.

Und dann diese Haare! Schon als Kind staunte ich über ihre imposanten Frisuren (Ein dreifaches »Hoch!« auf die Erfinder des Haarsprays - alle Haarsprays hießen damals Taft! »Gib mal das Taft!«). Einmal sah ich sie auf einem Kinderfoto, da trug sie zwei lange, dicke Zöpfe. Das sollte meine Mamma gewesen sein? Konnte ich mir nicht vorstellen!

Wir lagen uns eine Weile in den Armen, und schließlich begrüßte mich auch Siegfried, ihr Mann. Der Nachfolger meines Vaters und Grund, warum auf dem Klingelschild nicht länger »Altenburg«, sondern »Reisner« stand. Mein ewiger Widerpart im Kleinkrieg um Disziplin, rechte Winkel und die Anordnung der Kissen auf dem Sofa. Seit Jahrzehnten eröffnete er unseren Schlagabtausch mit »Na, Peter, alles klar? Hasse Arbeit?«

Ich lauerte auf den Startgong zur ersten Runde, ich hatte mir vorgenommen, die Ruhe selbst zu sein und jeden Infight zu vermeiden. Harry hätte mir sicher zugestimmt.

Meine Nervosität erwies sich als überflüssig, die Nummer ging schlank über die Bühne. Wir umarmten uns kurz, er hatte genausowenig wie ich ein Interesse daran, unsere Scharmützel bis in alle Ewigkeit fortzusetzen. Seit ihn der Krebs vor einigen Jahren fast ins Grab befördert hätte, konnte ich bei ihm eine gewisse Altersmilde beobachten.

Zehn Minuten später saß ich mit meiner Mutter im ehemaligen Kinderzimmer, jetzt ihr Eßzimmer. Aber ich mußte nur aus dem Fenster schauen, das mir früher wie ein gewaltiger Fernsehbildschirm erschienen war und nun als Zeit-Monitor - so wie der aus Time Tunnel.

Ich riskierte einen Blick ins Vorgestern, in ein Panaroma aus Seifenopern und Horror-Storys. Sah den Brunnen am Wupperfelder Markt, in dem ich als Kind gebadet hatte und wo direkt daneben mein Alter sein letztes Jahr auf der Pennerbank verbracht hatte. Rechts davon die ehemalige Stammkneipe meiner Eltern, in der nun ein Grieche Bier und Schnaps servierte. Ein Haus links davon das ehemalige Café Kormann, mittlerweile ebenfalls in griechischer Hand, und noch weiter der »Wupper-Grill« – eine Pommesbude, die von Anfang an griechisch war. Von dort aus quer über die Straße irgendein Geschäft, das ich nicht kannte und damals eine andere Stammkneipe meines Vaters aus späteren Jahren beherbergte.

Und zwischen all dem und unserem Klotz die Berliner Straße, auf der eines Tages ein Auto meinen Vater von der Straße wischte.

Die Gebäude des Viertels an sich hatten die vergangenen Jahrzehnte fast unverändert überstanden. In den vergangenen 50 Jahren war wenig abgerissen oder neu gebaut worden. »Mein privates Freilichtmuseum«, dachte ich. Fehlten eigentlich nur die passenden Schauspieler, um die 70er wieder lebendig werden zu lassen. Und die Rückkehr der alten Geschäfte. Und … ach, egal! Alles Spinnkram.

 

Während ich in die Vergangenheit glotzte, hatte meine Mutter einen Pfefferminztee auf den Tisch gestellt, dazu ein paar Kekse.

»Wir können über alles reden«, sagte sie. Ihr war nicht entgangen, daß irgendwo der Schuh drückte. In unserem kurzen Telefonat hatte ich nur angedeutet, daß ich mit ihr über fast vergessene oder verdrängte Dinge reden wollte. »Es gibt keine Geheimnisse, Peter.« Dann schleppte sie drei Fotoalben an.

Mir fiel ein Stein vom Herzen, meine Sorgen waren unbegründet, unsere Forschungsreise konnte beginnen. Auf zur Tauchfahrt in eine vergangene Zeit! Hinein in die 60er Jahre, sauber gefaltet im DIN A4-Format!

Man kann angeblich Haustüren und Autos unverschlossen lassen, Fußballer sind echte Kerle, und alle haben Arbeit.

Die Leute glotzen in Röhrenfernseher, hören Radio und lesen Zeitung. Das Internet ist noch nicht mal ein Embryo. Computer und Handys sind Spinnkram aus utopischen Geschichten.

Wer sich heftig abstrampelt, endlich »erwachsen« zu werden, hat keine Chance, Freddy Quinn oder Peter Alexander zu entrinnen. Na ja, vielleicht als »Halbstarker«. Aber ohne Punk oder eine andere Methode, der Welt eindrucksvoll vor den Koffer zu scheißen. Eine ordentliche Massenschlägerei geht jedoch immer.

An den Kiosken gibt's stapelweise Schundheftchen aller Art, für Groß und Klein. Speziell auf Comics sind Eltern und Lehrer nicht gut zu sprechen. Sie fürchten den Untergang des Abendlandes und übergeben alles von Micky Maus bis Tarzan in pädagogisch wertvollen Ritualen dem Feuer. Bücherverbrennung light! Die Blagen sollen sich nicht so anstellen, ist ja nur zu ihrem Besten!

Zumindest für deutsche Erwachsene scheint die Welt halbwegs ok. Ärgerlich, wenn der eigene Nachwuchs als mißgebildetes Contergan-Baby zur Welt kommt oder einem der Knochenjob die Gesundheit ruiniert!

Ansonsten geht es nur vorwärts: Das erste Atomkraftwerk nimmt seinen Betrieb auf, bemannte Raketen schießen ins All und mit der Erstausgabe des Weltraumhelden Perry Rhodan wird ein Grundpfeiler bundesdeutscher Schundheftkultur geschaffen. Wer den 15 Jahre zurückliegenden Krieg erregender findet, bekommt mit Landser ebenfalls passenden Lesestoff – vom gleichen Verlag!

Stalinorgeln, Stuka-Bomber und V2-Raketen sind allerdings so was von vorgestern – Atombomben stehen jetzt auf dem Spielplan! Da legt Otto Normalverbraucher während der Kuba-Krise schon mal die Ohren an, weil er fürchtet, vom GANZ GROSSEN BUMMMMMS!!! aus dem Ohrensessel gepustet zu werden.

Was für ein Glück, daß einen fähige Politiker wie John F. Kennedy und Franz-Josef Strauß vor dem Schlimmsten bewahren! Und ab 1962 die Fußball-Bundesliga, die beliebte Alternative zu Politik und Weltuntergang.

Hinter der blitzeblanken Wirtschaftswunder-Fassade laueren allerdings Abgründe, die zum Horror taugen. Monster mit Mordsappetit auf das kleine bißchen Glück.

Aber an der Hand meiner Mutter würde mir schon nichts passieren, da war ich mir sicher. Die kannte sich in dieser vertrackten Epoche bestens aus. Ein echtes Heimspiel - 1960 war sie erst 23!

»Damals habe ich im Haus Marianne gearbeitet«, begann sie. »Das war eine Gaststätte in der Kohlstraße in Elberfeld. Der Kurt ist das erste Mal wegen der Kegelbahn da gewesen. Ernst Strunk war bei Haus Marianne Mitglied im Verein und hatte alle eingeladen.«

An den konnte ich mich erinnern, das war ein Arbeitskollege meines Vaters. So ein Glatzkopf mit Brille, irgendwo in den Vierzigern. Er hieß immer nur »Onkel Ernst«.

Wie auf Stichwort fiel ich gleich wieder in einen Zeittunnel: Da sitzt ein Dutzend Leute an zusammengeschobenen Tischen und spült ein Bier nach dem anderen runter. Die Luft ist voller Zigarettenrauch. Aus einer Musikbox ertönt »Seemann, deine Heimat ist das Meer« von Freddy Quinn. Die Männer tragen ausnahmslos Anzug und Krawatte, die Frauen einen Rock, die Haare mit viel Arbeit in Form gebracht. Tollen, Wellen, Scheitel, Glanz. Da hängt nichts zufällig in der Gegend herum.

Während ich an der Hand meiner Mutter durch diese fast schon antike Szene wandere, kommt eine junge Frau mit einem Tablett an den Tisch und serviert ein halbes Dutzend Biere. Das ist sie, die junge Anni! Hammer! Meine Mutter, als es mich noch nicht gab!

Ich sehe ihren Schwarm: Markantes Gesicht, mit Augenbrauen, die schräg aufsteigen. Ein kerniger Typ, hätte einen guten Vulkanier abgegeben. Ich kann schon verstehen, daß die Anni da genauer hingeschaut hat.

»Er hat mir was zu trinken ausgegeben, wir haben uns unterhalten. Wie das eben so geht«, fuhr meine Mutter fort. »Ein paar Tage später kam er alleine wieder, hat sich da hingesetzt und sein Bier getrunken. Und irgendwie den Kontakt zu mir gesucht. Das ging dann ein paar Wochen so. Da hat die Wirtin gesagt: 'Fräulein Hafting, überlegen sie sich das gut, der hat eine sehr durstige Kehle!' Aber wir sind uns dann doch näher gekommen.«

Ich versuchte mir vorzustellen, wie die beiden rumknutschen, sich streicheln oder anderweitig an die Wäsche gehen. Bei den eigenen Eltern eine bizarre Vision.

»Der Kurt hat sich meistens alleine an den Stammtisch gesetzt, und dann schauten wir eben, was ging. Ich hatte ja auch nicht so viel frei. Wenn doch, bin ich immer zu Anne-Marie ins Augustinerstift. Da war gar nicht die Möglichkeit, sich oft zu sehen. Meist hatte ich auch mehr als 8 Stunden Arbeitszeit. Da gab's dann mal Extras von der Wirtin, eine Strumpfhose oder so.«

Irgendwann hat mein Vater die Anni dann zu Hanni Petzold eingeladen. Das war seine Stammkneipe in der Schleswiger Straße, an der Ecke zur Gathe. Dort verkehrte neben seinen Freunden auch die Verwandtschaft.

»Da habe ich Kurts Schwester Helga und ihren Mann, den Rolf, kennengelernt. Und Kurts Vater. Das war ein ganz ruhiger Typ, der gerne geknobelt hat. Kurts Mutter gefiel nicht, daß wir zusammen waren, weil ich ja ein Kind hatte. Die hatte sich eine Braut vorgestellt, die unschuldig war, eine, die weiß heiratet.«

Nun wollte ich aber doch mehr über ihren Sex wissen. Immerhin ging's um meine Entstehung.

»Ich tat das nicht, weil ich es mußte, sondern weil es mir gefiel. Und so wie es kam, kam es. Wir haben nicht verhütet«, erzählte meine Mutter und lachte.

Das mit der Verhütung war damals kein Zuckerschlecken. Die Anti-Baby-Pille kam ja gerade erst auf den Markt – in Amerika! Kondome zog Mann in der Herrentoilette testweise aus dem Automaten. Sie standen nicht in gutem Ruf, weil etwa so angenehm wie Gummihandschuhe und sicher wie Plastiktüten auf einer heißen Herdplatte. Dann lieber kurz vor dem Abgang den Rückwärtsgang einlegen! Diese Herangehensweise sorgte für die geburtenstarken Jahrgänge.

»Kurt sagte immer, er paßt auf. Aber einmal hat er wohl nicht - ich weiß noch genau, wie wir dich gemacht haben!« Nun grinste sie und hatte wohl ihre Freude bei dem Gedanken an die schönen Stunden.

»Das war nicht im Haus Marianne. Ich hatte mir ein Zimmer in der Kantstraße genommen. Ein ganz kleines Ding für weniger als 50 Mark. Kein Herd, kein Ofen, nur eine Kochplatte. Der Kurt konnte da nachts nicht bleiben. Mußte ja auch nach Hause kommen, da hat die Mutter aufgepaßt. Ich besaß zwei Koffer, die hatte ich unters Bett gestellt. Woanders war ja kein Platz. Einen davon habe ich noch. Da sieht man heute noch die Spuren von unserem Gerumpel.«

Ein alter Koffer als Beweis, daß ich nicht durch Unbefleckte Empfängnis gezeugt wurde!

»Wir hatten jedoch immer öfter Streit, meist wegen der Trinkerei. Da habe ich Schluß gemacht. Ich wollte nicht mehr. Ich habe bei Haus Marianne gekündigt und bin einfach nach Norderney gefahren. Da habe ich mir in einem Haushalt Arbeit besorgt. Dort blieben meine Tage aus, und ich erfuhr, daß ich schwanger bin. Scheiße, ich wollte kein Kind mehr! Ein paar Tage später habe ich zufällig einen elektrischen Schlag bekommen, und daraufhin setzten Blutungen ein.«

Sie fuhr fort: »Ich kam ins Krankenhaus und hab dann dem Kurt telefonisch gesagt, daß ich schwanger bin, aber wahrscheinlich eine Fehlgeburt haben werde. Daraufhin ist er direkt nach Norderney gekommen. Als Kurt nach Wuppertal zurückkehrte, war seine Mutter gar nicht diesen Neuigkeiten begeistert. Dabei ist es ihr selbst genauso ergangen. Ihr Junge war ja schon unterwegs, als sie und der Oppa geheiratet haben. Na, die Henne vergißt immer, daß sie ein Küken war!«

Meine Mutter hielt eine Weile inne, fuhr dann aber fort:

»Na, ich hätte so auch nicht in Lünnerode auftauchen dürfen. Das ging ja schon wegen Anne-Marie nicht. Und jetzt noch ein uneheliches Kind … Kurts Vater hat dann ein Machtwort gesprochen: 'Du weißt ja, was du zu tun hast!' Da war seine Frau aber sauer!«

Einen richtigen Heiratsantrag gab's nicht. »Er hat mir nur erzählt, sein Vater hätte ihm gesagt, ihr müßt jetzt heiraten. Da war die Sache geritzt. Aber ich habe den Kurt schon geliebt. Ich habe immer gedacht, in meinem naiven Kopp, wenn ein Kind da ist, dann hört die Sauferei auf. Aber das war ein Irrtum.«

 

Einige Monate vor meiner Geburt wurde also geheiratet. Daß seine Angebetete schon eine bald zweijährige Tochter hatte, damit kam mein Vater klar. Er gab ihr sogar seinen Namen, aus Anne-Marie Hafting wurde eine Altenburg. Keine Selbstverständlichkeit in der Steinzeit.

Nach der Hochzeit redete in Lünnerode niemand mehr über den Ärger von vorgestern. Meine Mutter war nun eine verheiratete Frau und damit auch ihr Heimatdorf keine No-Go-Area mehr. Endlich alles gut! Zumindest wenn man die Scheiße ignoriert, die in den folgenden Jahren mehr und mehr zu dampfen begann. Denn Kurt Altenburg sorgte dafür, daß unser Arbeitermärchen von Anfang an unter einem schlechten Stern stand und sich in einen Albtraum verwandelte.

 

Aber das kümmerte mich nicht an diesem Tag, darüber hatte ich schon so viele Gedanken gewälzt und verwurstet, deswegen war ich nicht nach Wuppertal gekommen. Es zählte, daß die Dinge nun auf dem Tisch lagen, mein »Origin« sauber recherchiert war: Ich mutierte durch einen elektrischen Schlag zu Electro – ein Superheld unter konstanter Extremspannung! Anderen erschien ich eher als Spinner, Schnellsprecher und Hektiker, genannt »Die Unerträgliche Nervensäge«!

In späteren Jahren mutierte Electro zu Vulcano – jederzeit bereit, die Menschheit mit tödlichen Lavaströmen auszulöschen. Also eigentlich kein Superheld, sondern ein Superschurke. Ein tragischer, denn nun brannte er sich selbst die Birne aus.

Ich war eben doch meines Vaters Sohn.

 

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