Nr. 35

Der Amoklauf, den es nie gab

aus »Schlund«, 2018

Der Tag, an dem ich mich dagegen entschied, in die Geschichte einzugehen und den Rest des Lebens hinter Gittern zu verbringen, war weder kalt noch warm. Er war lau, unauffällig und hinterfotzig. Wie alle anderen zog ich es vor, mich kaufen zu lassen, wie sie schaufelte ich die Exkremente Satans auf den Teller und bildete mir ein, wie ein König zu speisen. Doch nicht mal Gurgeln mit Coca-Cola konnte den schlechten Geschmack im Mund vertreiben.

An besagtem Tag – es war der 4. Februar des Jahres 2004 – entging Berlin einem verheerenden Terroranschlag, und die Welt erlaubte sich den Luxus, das zu ignorieren. Niemand nahm Notiz von der tickenden Zeitbombe in Gestalt eines Mannes im schwarzen Anzug, schlank, mit Glatze und flinken Augen, hinter denen ein Albtraum nackt auf dem Tisch tanzte.

Noch heute will es nicht in meinen Kopf hinein, dass ich dieser Mann war. Versteckt in der Masse emsig arbeitender Ameisen, hatte ich am Gendarmenmarkt Position bezogen, gleich am Eingangsbereich des dortigen Konzerthauses. Hier träumte ich vor mich hin, während ich meinen Job machte: Die Tickets der prominenten Gäste entgegennehmen, Platzierungsprobleme lösen, Computer überwachen und nebenbei ein Dutzend Hostessen bei Laune halten, die sich mit meiner Software abmühten. Ich sollte sicherstellen, dass damit alles rundlief, als Mann für alle Fälle.

Vorbei die Zeiten, in denen mich die Sicherheitsbehörden als Teilnehmer von Gewaltexzessen führten, als »reisenden Chaoten« und »linksextremistischen Punker«. Als »Gefährder«, wie Leute meiner Sorte auf dem Höhepunkt der Terror-Hysterie einige Jahre später genannt werden sollten.

In meinen Augen stellte sich das natürlich anders dar. Dennoch hätte man mir diesen Job niemals anbieten dürfen – in einer Welt, in der alle das nächste Blutbad herbeiredeten. Weil aber die Security keine Telepathen beschäftigte, drückte niemand den Alarmknopf. Die Sirenen blieben stumm.

Nun stand ich hier im Tempel der Schleimer, Schönen und Mächtigen und amüsierte mich bei dem Gedanken, dass Axel Springer gerade jetzt im Grab rotierte. Denn die Lebenden traten das Erbe des Verlegers mit Füßen; sie hatten in ihrer Ahnungslosigkeit die Sicherheit hunderter Prominenter einer zwielichtigen Gestalt anvertraut, der offenbar alles zuzutrauen war – mir! Und das ausgerechnet zur Verleihung der Goldenen Kamera, dem pompösen Film- und Fernsehpreis des Axel-Springer-Verlags. Wie jedes Jahr gab sich aus diesem Anlass die TV-, Film und Politprominenz in Berlin ein Stelldichein und ließ sich vom ewig gutgelaunten Thomas Gottschalk Honig ums Maul schmieren.

Hier war ich also gelandet, mittlerweile 43 Jahre alt. Ohne bunte Haare, ohne Lederjacke, keine Chaostage – jetzt trug ich Schlips und Anzug bei der Goldenen Kamera. Ich stand nicht mehr mit den Heiligen Scheinen auf der Bühne, die Faust gereckt, sondern begrüßte den Botschafter Israels, schrie nicht »Niemals aufgeben«, bis der Saal tobte. Stattdessen sagte ich wie im Briefing empfohlen mein Sprüchlein auf: »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend«. Immer wieder, bis zum Erbrechen.

Wir taten unsere Pflicht: ich, die Mädchen und eine Rotte Fotografen, die alle prominenten Neuankömmlinge mit einem Blitzlichtgewitter überfiel. Sobald sich die Tür einer Limousine öffnete und ein Gast den roten Teppich zum Konzerthaus beschritt, gab es kein Entkommen. Unzählige Gaffer bildeten ein Spalier, um sich der Existenz der Lichtgestalten aus Film und Fernsehen zu versichern.

Doch niemand sah den Film, den ich sah – sonst hätte sich der Laden in ein Tollhaus verwandelt! Nach außen hin posierte ich als gewöhnlicher Anzugträger, der in versierter Seelenruhe seine Arbeit tat, aber in mir kochte ein Hackfleischgericht ganz besonderer Art.

Ein fixer Griff unter den Tisch, und ich habe die Sporttasche in der Hand. Ziehe die Halbautomatische heraus, den Rucksack über. Munition gecheckt, den Promi-Mob im Blick: Keine zehn Meter von mir entfernt Veronica Ferres, die debil lächelnd ihr Kleid vor Zaungästen und VIP-Kameras präsentiert und auf Stöckelschuhen über den Teppich tänzelt. Die sieht sich bestimmt schon in der nächsten Gala.

Nix da, anlegen, ballern: »Hey, Vroni, nimm’ DAS!« Die Grinsefresse der Ferres erfriert, als die Kugel in ihre Brust einschlägt. Ihr letzter Auftritt vor der versammelten Presse endet jäh, sie kippt sofort um. Blut bespritzt die Fotografenmeute, die von der nächsten Garbe dahingemäht wird.

Ich stürme zum Eingang des Konzertsaales, hinter mir Geschrei und vor mir niemand, der mir den Weg versperrt. Doch, einer: Dieter Thomas Heck schwingt seine Arme wie Windräder, hält lautstark Volksreden. Der Schreihals ruft nach den Verantwortlichen des Radaus, das kann er haben: BRRRAAAKKSCH!!! Sein Kopf explodiert in einem blutroten Heiligenschein. Treffer, versenkt!

Im bereits gut gefüllten Saal mache ich Schluss mit der Präzisionsarbeit: RRRATTATTATTATT-RRRATTATTATTATTATTATTATTATT!!! Dank dieser gleichmäßigen Verteilung von Blei erwische ich den Großteil der Bande. Einer nach dem anderen fällt vom Stuhl, die Simulanten zuerst. Glauben sie etwa, ihr Ableben schauspielern zu können? Mir ist es gleich, ob ich jemand davonkommt. Solange es nur für die Top-Nachricht des Tages reicht!

Ich bin ein T-800 aus Terminator und scanne die Umgebung, ssss-ssss-ssss! Thomas Gottschalk erspähe ich nirgendwo. Klar, fällt der Groschen, der kommt erst, wenn die Kameras laufen – Glück für ihn! Bei Gottschalk drücke ich gerne ein Auge zu, weil er im Bayerischen Rundfunk vor seiner TV-Karriere die Sex Pistols gespielt hat. Auch die Klitschko-Brüder erschieße ich nicht, kann ich nicht, die mag ich. Dafür bekommt Mutter Beimer von der Lindenstraße die doppelte Ladung zwischen die Augen, sicherheitshalber. Die geht mir dermaßen auf den Zeiger, die ist fällig! Meine Art, jemanden aus einer Serie herauszuschreiben – sehr innovativ, wie ich finde.

Schade, dass Axel Springer himself nicht anwesend sein kann! Dem würde ich gerne persönlich was ins Gästebuch schreiben. Aber toter als tot geht nun mal nicht.

Nächste Runde: Rucksack abschnallen und Präsente auspacken! Im Supermarkt gibt’s bereits Oster-Süßkram – und von mir Eierhandgranaten! Zwei Dutzend von den Dingern, voll auf die Zwölf! JAAAAAAA! RRRRUUUMMMSSS! Wer braucht da Silvester?

Ich ziehe die Axt aus dem Rucksack, um allem, was noch zuckt, wimmert und atmet, den Rest zu geben. Hacken für den Frieden in meinem Herzen, harte Arbeit, wahrer Lohn!

Zum Abschluss der schweißtreibenden Großwildjagd ein gellender Tarzanschrei – statt eines Trinkspruchs! Danach ist Ruhe im Puff, der Saal ein planes Planquadrat. Mit Gewalt geht alles!

Wozu Osama Bin Laden, Al-Kaida und die Taliban – es gibt ja KARL NAGEL, den LETZTEN PUNK!

 

Licht an: Statt zu schießen, drückte ich mir eine Handvoll Gummibärchen in den Mund und beließ es dabei. Ich kaute, schmatzte, schluckte und wurde nicht zum Massenmörder, obwohl ich gerne mitangesehen hätte, wie die Welt aus Lügenpresse, Stars und TV-Moderatoren zusammenfällt. So wie früher, in Straßenpunk-Zeiten, als Chaos und Anarchie meine besten Freunde waren.

Schon damals hatte ich eine eigenwillige Vorstellung von Spaß. Der Tumult wartete immer nur einen Steinwurf entfernt – es reichte, mit einem Dutzend Kamikaze-Kandidaten durch eine x-beliebige Fußgängerzone zu laufen. Pöbel und Gesocks gegen den Normalzustand: Spätestens nach einer Viertelstunde stand ich grinsend im Bombenhagel und das Chaos trieb frisches Adrenalin durch die Adern.

Irgendjemand fand sich immer, der uns sein »Euch müsste man vergasen!« nachrief; wenn wir nicht asozial genug aussahen, untermauerte eben der Mutigste von uns (der meist der Besoffenste war!) mit einem Tritt gegen einen Mülleimer unsere Glaubwürdigkeit.

Nun, zwanzig Jahre später, erschien mir dieser fast vergessene Tanz auf dem Vulkan wie Szenen aus Mad Max oder Die Klapperschlange, aber im Gegensatz zu Snake Plissken hatte ich einen Amoklauf im Alleingang nicht im Repertoire. Ich zeigte lediglich milde lächelnd die Zähne, statt sie als ausgewiesener Splatterexperte ins Fleisch prominenter Leichen zu schlagen oder fotogen mit herausquellenden Gedärmen zu spielen. Der Ego-Shooter tobte sich ausschließlich im Kopf aus und verzichtete auf das Blutbad meiner Träume.

Dumm gelaufen, klasse Schlagzeile verpasst: NIE WIEDER ›DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERSTAR‹ – DIETER BOHLEN VON KANNIBALEN GEFRESSEN! Ich wäre unsterblich geworden, zum Helden unzähliger Punk-Songs und Namensgeber von Bands wie Nagel Youth oder Killer Karls. Verehrt von Millionen Fans weltweit – Je suis Karlie!

Eine einmalige Chance hatte ich da vertan! Just als mir Helmut Kohls Mantel der Geschichte zugeworfen wurde, fehlte ein Zehn-Punkte-Plan. Stattdessen landete ein Löffel Dünnes in der Hose, weil ich Angst um den leckere Mammon bekam. Und vorm Knast.

Nicht mal ein Amokläufchen wagte ich, eines mit Ketchup, faulen Eiern oder Juckpulver. Das wäre auf jeden Fall drin gewesen und hätte eh besser zu mir gepasst; jenseits ausufernder Splatterphantasien wurde ich nie vom Verlangen getrieben, im echten Leben Menschen umzubringen.

Trotzdem war ich weder fähig noch willens, diesen günstigen Moment für eine Programmänderung zu nutzen; wie alle anderen an jenem Abend funktionierte ich; phantasielos, zuverlässig und bar jeder Bedrohung für Vroni, Dieter und den Rest der Bande.

 

Weil ich ahnte, versagt zu haben, verfolgten mich die Geschehnisse vom Februar 2004 in den Jahren darauf mehr als einmal bis in den Schlaf. Ich fürchtete, nie wieder eine vergleichbare Gelegenheit zu erhalten, den medialen Windmachern und Blendern ins Gesicht zu scheißen. Was konnte noch kommen? Würde ich von nun an dahindämmern wie ein stillgelegter Gaskessel? Dein Schwanz wird für immer schlaff bleiben. Nur noch zum Pissen da.

Ich reihte mich ein in die Armee der Untoten, als Teil der Generation, die in den 60ern aufwuchs, in den 70ern pubertierte und sich in den 80ern im Zentrum des Zeitgeistes wähnte. Die Generation der Blender, Selbstdarsteller und Schaumschläger, die jede Ordnung zertrümmern wollte, Eltern, Rentner und Politiker verhöhnte und selbst zu GROSSEM bestimmt schien. Nur um später in Medienindustrie, Wohnzimmer, Fußballkneipe zu versacken. Oder abzukratzen zwischen Astra Urtyp und mit Hundescheiße gestrecktem Heroin.

Begründungen und Entschuldigungen, warum ich zu denen gehörte, die die welterschütternden Schlachtpläne der Sturm- und Drangzeit voll gegen die Wand gefahren hatten, hatte ich gleich dutzendweise auf Tasche: Machten es die anderen nicht ebenso? Wurden wir nicht alle reifer und vernünftiger? Ich dachte an Lena, die damals nicht mal ein Jahr alt war. Was konnte ein Einzelner ausrichten? Und überhaupt, die Miete musste bezahlt werden, die Brötchen gebacken, die ganz kleinen.

Meine Entscheidung, die Füße stillzuhalten und mein Leben nicht auf dem Altar einbetonierter Prinzipien von einst zu opfern, lag in dieser Nacht fast 13 Jahre zurück. Die Ereignisse vom Februar 2004 holten mich ein letztes Mal ein, als Auftakt zu einem Albtraum.

Ich verließ den Zeitschlund und fand mich in einem National-Express wieder. Schleppte meinen Koffer auf den Bahnsteig von Wuppertal-Oberbarmen und blickte mich um. Ich erwartete, für mein Versagen zu büßen.

Vor mir ragte ein Betonbau in die Höhe und erleuchtete in dämonischem Glanz die Dunkelheit. KAUFLAND. Der Palast eines monströsen Kraken, der meine Flucht ins Mittelmaß mit einem brutal zupackenden Fangarm ein Ende bereitet hatte, um mich für immer in den Supermarkt zu verbannen.

Ich wälzte mich im Schlaf, getrieben vom Drehwurm. Wie ein Ertrinkender strampelte und kämpfte ich ums Überleben und war nicht bereit, jede Hoffnung fahrenzulassen. Die Lage war aussichtslos, dennoch wehrte ich mich mit Händen und Füßen gegen das Monster, das mich mit seinem hypnotischen Gesang einzulullen suchte: »Komm herein … folge mir … wehr dich nicht … kauf ein bei mir!«, imitierte es die Schlange Kaa.

Ich redete mir ein, es gäbe einen Ausweg: Du musst es nur wollen! Ich flehte das Schicksal an, mir noch eine Chance zu geben.

Und dann werde ich verficktnochmal alles klarmachen!

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