Nr. 67

Asylsuche im Vakuum

aus »Schlund«, 2018

Das Ende des Horizonts ist zuweilen nur die Wohnungstür; mit letzter, zielloser Tatkraft entkam ich dem Bunker. Im Laufschritt zur S-Bahn-Station, rein in den Zug. Teil der Masse werden, mit leerem Gesicht ins Nichts starren. Ins Smartphone.

Warum hatten Menschen ein Gesicht? Bei vielen wäre ein Display nützlicher gewesen. Vor 30 Jahren waren sie hinter einer Wand aus BILD-Zeitungen versteckt. Nun hielten sie während der Fahrt Kontakt zur großen, weiten Welt; Daumen und Zeigefinger hackten im Akkord.

Es juckte auch in meiner Tasche, ich nahm das iPhone heraus. Mist, die Verbindung ist zu schlecht – dann eben Tetris! Dazu sang ich leise »Hurra ich bin genormt, hurra, ich bin geformt«. Eine junge Frau neben mir blickte mich aus den Augenwinkeln an. Hielt mich sicher für gestört, womit sie nicht unrecht hatte.

Ein Mann um die Siebzig, unauffälliger Typ, ordentliche Klamotten, ging durch den Mittelgang und hob links und rechts die Deckel der Mülleimer. Ab und zu zog er eine Dose oder Flasche heraus und steckte sie in eine Plastiktüte. Das verarmte Fußvolk der Nachhaltigkeit war am Werk. Die gewaltfreie Geheimwaffe, die zusätzlich dafür sorgte, dass Flaschenhagel auf Polizisten bei Demonstrationen undenkbar geworden waren. Den Pfandsammlern entging kein ausgetrunkenes Bier.

Mir gegenüber saß eine Frau, ungefähr in meinem Alter. Sie saß halt da, helle Jacke, beige Hose. Die Haare mehr als ordentlich frisiert. Die gemalten Augenbrauen verdeutlichten unmissverständlich, dass sie weder Zufälle noch Dreck unter den Fingernägeln duldete. Sie blickte aus dem Fenster, presste ihre Lippen zusammen. Mir grauste bei der Vorstellung, dazwischen zu geraten.

Dann schaute sie mir für einen Moment direkt ins Gesicht. Ich ergriff die Gelegenheit, beugte mich ein wenig vor und sagte: »Ach, das wollte ich auch gerade denken!« Die Schraubzwinge verzog keine Miene und wandte sich wieder dem Fenster zu; manche Menschen konnten ihre Gefühle nicht ausdrücken, nur auspressen.

Sie und all die anderen in der Bahn waren die Welt, die ich verpasste, wenn ich zuhause blieb. Dafür hatte ich den Bunker verlassen?

 

Ich stieg an der nächsten Station aus und nahm die Bahn zurück. Nach Hause, wo mir nach fünf Minuten erneut die Decke auf den Kopf fiel. Ich sprintete in die Vierte, zu Barbara, meiner Ex – und zu meiner Tochter Lena.

Lena öffnete die Tür und lief gleich ins Wohnzimmer, wo Barbara auf dem Sofa saß und in den Fernseher starrte. Lena setzte sich zu ihr, beide verfolgten gebannt das Treiben auf dem Bildschirm.

Es lief eine Disney-Serie, irgendeine. Ich hatte nach iCarly den Anschluss verloren und keine Ahnung, was für Middle-Class-Teenies sich da vollaberten; Lachkonserven halfen den Zuschauern beim Erkennen der witzigen Stellen.

Immerhin ließen sie sich die beiden an diesem Abend nicht von Germany’s Next Top Model umprogrammieren. Ich setzte mich wortlos und beobachtete, wie sie Salatblätter und Schönheitsideale in sich hineinstopften. Nur unterbrochen vom gelegentlichen »Ping« ihrer iPhones – von WhatsApp-Kontakten, die auf sofortige Antwort bestanden.

Barbara und Lena gaben keinen Mucks von sich; sie lachten nicht angesichts des kolossalen Spasses, der aus dem Fernseher quoll.

Ein Werbeblock riss Mutter und Tochter aus ihrer Trance. Aufgeschreckt drosch Lena die Fernbedienung wie einen Schlagstock durch die Luft, ungestüm auf den Tasten orgelnd, bis ihr Zappen einen akzeptablen Sender fand. Eine Slalomfahrt ums Werbefernsehen herum. Konserve war langweilig, lieber glotzen, was das TV Programm anbot.

Sie liebten das, ich hasste das. Ich hatte den Dritten Weltkrieg um meine Tochter verloren, gegen Disney, Heidi Klum und Konsorten, gegen WhatsApp und YouTube.

Weil ich nicht wagte, ihr Abendvergnügen zu unterbrechen, ging ich nach einer Viertelstunde. Nein, ich ging nicht, ich stampfte die Treppe hinunter. Erklärte der Welt einmal mehr den Krieg. Ich bin immer noch ein Kämpfer und werde nicht jammern! Nein, ich werde nicht jammern! Werde ich nicht! Auf keinen Fall nicht, niemals!

 

Zurück im Bunker. Und entschlossen: Für den Rest des Tages keine Mails, kein Internet! Aber ich könnte noch ’ne Pizza ordern, oder? Bei Smiley’s anrufen, Bestellung aufgeben, mir ein Lied wünschen und jemanden grüßen. Nein, auf keinen Fall würde ich das tun – die Waage hätte mich am nächsten Morgen mit dem Überschreiten der 100-Kilo-Grenze bestraft.

Weil mich die Gier, etwas Warmes in mich hineinzustopfen, weiterhin konfus machte, öffnete ich eine Dose Linsensuppe: auf den Herd, rein das Zeug! Das ging fixer als Pizza und war billiger.

Während ich im Wohnzimmer die Suppe hineinschaufelte, verharrte im Büro der Mac im Ruhezustand. Lass ihn ruhen!, schärfte ich mir ein. Lieber ’ne Scheibe auflegen!

Weil mir seit einer Weile Amy Winehouse im Kopf herumspukte, griff ich zu »Back To Black«. Dazu ein Buch – ich setzte mich mit Wahn von Stephen King aufs Sofa.

Nach einer Weile bemerkte ich, dass ich nicht las. Meine Augen bewegten sich im Rhythmus der Zeilen, mehr nicht. All die Seiten, Geschehnisse und Worte rauschten an mir vorbei, Gedanken ratterten in zusammenhanglosen Tweets durchs Hirn, während Amy sich im Hintergrund quälte. Sie sang »I cried for you on the kitchen floor«, ich kaufte ihr das ab. Ich kannte diese Momente.

Ohne Ersatzdrogen überstehe ich den Abend nicht, begriff ich gegen zehn. Was schwerer zu stemmen war als gedacht. Einen meiner 1800 Filme auszuwählen, war eine Entscheidung, die mich überforderte. Und zielloses Rumgezappe zwischen 150 TV-Kanälen hätte mir endgültig den Kopfschuss verpasst.

Ich killte Amy und ihr Leid, schaltete von Sehnsucht auf Posbi-Roboter und wählte die tagesthemen. Ein zuverlässiger, beruhigender Monolith in der Informationsflut. Wie früher, als noch kein Internet meinen Tagesablauf bestimmte. War das wirklich schon zwanzig Jahre her?

Was nun abgespult wurde, erforderte die volle Konzentration meiner Biopositronik. Keine Klicks und Häppchen zwischendurch, sondern Dranbleiben: Die türkische Religionsbehörde schnüffelte in deutschen Moscheen herum. Im Auftrag von Erdogan, der ständig beleidigten Präsidenten-Leberwurst. Einer herrschsüchtigen Leberwurst!

»Für die einen wird morgen ein Albtraum wahr«, begann Ingo Zamperoni, der tagesthemen-Moderator. »Die anderen dürften gut schlafen und voller Vorfreude sein auf das, was sich hier morgen auf der Mall in Washington abspielen wird. Um Punkt zwölf Uhr mittags – High Noon – wird auf den Stufen des Capitols Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA vereidigt.« Es folgte ein Filmchen über Trumps Ankunft, dann Interviews. »Mit ihm wird es schrecklich werden«, sagte ein Trump-Gegner in die Kamera.

Der nächste Film: Was durfte ein US-Präsident? Kriegseinsätze befehlen! Terrorverdächtige ohne Prozess einsperren! Festlegen, was Folter ist! Knöpfchen drücken im Atomkoffer! Heidewitzka!

Gefühlte hundert Mal war ich drauf und dran, das iPhone einzuschalten, um den heißen Scheiß auf einschlägigen Seiten zu vertiefen, schaffte es aber jedes Mal, mich zusammenreißen. Killerargument: Die deutsch-amerikanischen Beziehungen hatten für mein Leben die Bedeutung des Handlungsverlaufs einer halbgaren Disney-Serie, die Leberwurst auch. Konnte man ignorieren.

Genau – einmal stark sein! Stark wie Trump und Schweineleberwurst!

Leider war ich zu schwach, nach den tagesthemen die Kiste abzuschalten, sondern zappte mich gegen meinen Willen durch alle Sender. Nur kurz! Und ging doch in der Wildnis verloren – auf RTL. Ich tat mir Dschungelcamp bis zum bitteren Ende an, weil ich erfahren wollte, wen die Zuschauer am wenigsten leiden konnten und zum Tode verurteilten. Fräulein Menke landete unter der medialen Guillotine, und ich dachte: Ach, die lebt noch?

 

Ich ging ins Bett. Mit dem iPhone. Fickte eine Runde Tetris, durchwühlte Twitter. Ich musste wissen, wie viele Menschen heute in Syrien und im Irak gestorben waren. Konnte es sein, dass mich die Toten mehr interessierten als die Lebenden?

Licht aus.

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