Nr. 60

Als ich mein Leben in die Tonne warf

aus »Schlund«, 2018

22. September 1981: Ich schrieb einen Liebesbrief. Meine ganz persönliche Revolution. Seit Jahren schon ging mir Melanie nicht mehr aus dem Kopf. Ich hatte sie auf der Höheren Handelsschule kennengelernt, wo ich nur gelandet war, um der drohenden Arbeitswelt zu entgehen.

»Irgendwas Kaufmännisches«, hatte der Arbeitsamtsberater nach dem Eignungstest gesagt. »Vielleicht besser zuerst eine Fachschule?«

»Auf jeden Fall!«, lautete meine Antwort, und so lernte ich bald darauf Melanie kennen.

In der Klasse saß sie direkt hinter mir, in der zweiten Reihe. Sie erinnerte mich an Nastassja Kinski, die ich in einer Derrick-Folge gesehen hatte. Wie Nastassja trug Melanie langes, braunes Haar, dazu ein sinnlicher Mund, den ich gerne verstohlen aus den Augenwinkeln betrachtete. Das fiel mir leichter, als in ihre Augen zu schauen.

Melanies Stimme besaß eine angenehm dunkle Note, und was sie sagte, hatte Hand und Fuß. Kein zickiges Mädchen-Mädchen oder Modepüppchen. Ich kannte keine wie sie.

Es war eine platonische Liebe, an Sex dachte ich überhaupt nicht. Vielleicht, weil mir der Gedanke so absurd schien, mit ihr im Bett zu liegen und meinen Schwanz in sie reinzustecken. Eine Vorstellung, die ich mir unterbewusst verbot und deshalb nie hatte.

Das war jetzt vier Jahre her, Melanie wie auch ich hatten unsere Abschlüsse gemacht und waren wie vorgesehen in unseren kaufmännischen Jobs gelandet, die wir hassten und dennoch Tag für Tag über uns ergehen ließen. Und obwohl meine Sehnsucht nicht weichen wollte, hatte ich eisern geschwiegen. Ich war ein Wurm und wusste, dass ich nicht nur scheiße aussah, sondern als schwatzendes Kerlchen daherkam, in das sich nur eine Geistesgestörte verlieben konnte. Ich hielt mich für das Allerletzte, und außerdem war ich ein Feigling.

Zumindest an Letzterem ließ sich was ändern, das wurde mir eines Tage klar. Also schrieb ich einen Brief.

Ich hatte ihn heimlich während der Arbeit verfasst, und just als ich am Elberfelder Brunnen den Umschlag in den Briefkasten steckte, lief mir Dirk über den Weg. Ausgerechnet Dirk!

Er war ja nicht irgendwer – ich kannte ihn schon seit Jahren, noch vom Kinderflohmarkt, wir hatten zusammen das Science-Fiction-Fanzine Whistler fabriziert, und nun spielte er Gitarre bei Nahkampf.

Dirk war mein bester Freund. Der Sohn eines Algeriers und einer Deutschen trug das krause Haar bis zur Schulter und war ein sportlicher, gutaussehender Typ. Kein schmächtiges Männchen wie ich, sondern ein Mann, der einen guten Stand bei Frauen hatte. Dirk fehlte bei keiner Demo mit Militanz-Geruch. Ein Steineschmeißer, ein echter! Keim Schwätzer wie ich.

»Hast du schon gehört?«, fragte er aufgeregt. »In Berlin haben die Bullen einen ermordet!«

Ich verstand nichts. »Wie … ermordet?«

»Bei einer Demo. Voll drauf mit Knüppel und allem, und dann haben sie die Leute auf die Potsdamer Straße getrieben, rein in den Verkehr. Ein Bus hat dann einen Demonstranten zu Matsch gefahren. Diese Schweine … heute Nacht wird Berlin brennen!«

»Oh Scheiße.«

»Kannst du laut sagen.«

»Und jetzt?«

»Weiß nicht. Irgendwas. Treffe mich gleich mit ein paar Leuten. Wir lassen uns was einfallen. Bin gerade auf dem Weg dahin. Kommst du mit?«

»Nee. Habe um sieben ’ne Verabredung mit ’nem Freund. Den kann ich nicht hängenlassen.«

»Auch gut. Macht was Eigenes. Es soll heute überall knallen! Wir sehen uns!«

Und war weg.

Von wegen Verabredung – mein Herz war bis gerade eben voll und ganz auf Liebe eingestellt! Stolz wie Oskar, Cäsar, der mutige Hase, endlich mal! Da schaltet man nicht mal eben auf Hass um!

Zuhause dann sofort vor die Glotze, Radio an, alle zehn Minuten Senderwechsel, irgendwas erfahren. Ich zitterte, vibrierte, fieberte. Das sollte den ganzen Abend nicht aufhören.

Bald wusste ich, dass Dirk keinen Scheiß erzählt hatte. Es gab einen Toten, er hieß Klaus-Jürgen Rattay. Und das besetzte Haus, in dem ich vor ein paar Monaten gewohnt hatte, lag nicht weit entfernt vom Ort des Grauens. Quasi um die Ecke.

Den ganzen Abend überschlugen sich die Nachrichten. In Berlin gingen Tausende auf die Straße, Polizisten wurden mit Steinhageln eingedeckt.

Die Leute riskieren ihren Arsch, dachte ich. Und ich sitze in der Bude und tue gar nichts. Ich glotze, ich zittere, ich bin ein Feigling. Was in Berlin abgeht, das ist das wahre Leben!

Einige Wochen zuvor hatte ich im Fernsehen eine Doku über Kölner Punks, Teds und Rocker gesehen. Der Film hieß Randale und Liebe, und die Punks darin zeigten der Welt lachend den Stinkefinger. Sie hausten in abbruchreifen Häusern, arbeiteten nicht, warfen just for fun Molotow-Cocktails und betrachteten die Welt als Abenteuerspielplatz. Einige machten Musik – wenn man das Geschrammel so nennen wollte – in einer Gruppe namens Cotzbrocken.

Ich hatte vor der Glotze gesessen und geträumt. Von einem Leben als Punk.

Nun bohrte sich ein Gedanke an die Oberfläche. Einer, den ich zuvor nie zu denken gewagt hatte: Was ist, wenn ich die Arbeit hinwerfe?

GOTTVERDAMMTE SCHEISSE, DAS KANNST DU NICHT TUN! DU WIRST DEIN GANZES LEBEN KAPUTTMACHEN, WENN DU KÜNDIGST!

Schwachsinn. »So schnell stirbt sich’s nicht«, den Satz gab meine Mutter gerne zum Besten. Verdammt, ich war erst zwanzig, was konnte mir passieren? Im schlimmsten Fall würde ich auf der Straße landen – na und? Und überhaupt: wenn nicht jetzt, wann dann?

»Sterben müssen wir alle mal!«, sagte meine Mutter genauso häufig. Richtig, falsch, es war ganz egal, was ich tat. Am Ende würde ich sowieso in der Kiste liegen. Es gab keine »Sicherheit« – nur Selbstbetrug!

Als Alternative lockte ein neues, aufregendes Leben am Horizont. Warum noch länger im Mief des schützenden Bunkers verharren?

 

Am Morgen darauf stand ich in der Personalabteilung und reichte die Kündigung ein. Einige Wochen später sah ich in einem Monatsmagazin eine Anzeige und ging zum Friseur. Der konnte angeblich »New-Wave-Schnitte«.

»Ich hätte gerne eine Punkfrisur«, sagte ich. Kein Problem, ab die halblangen Zotteln, wirbeln, Haarspray.

Als ich den Friseurladen verließ, fühlte ich mich wie ein anderer Mensch. Alle schauen mich an – das glaubte ich zumindest!

Um zu erfahren, wie der verdammte Punk tickte, wollte ich mir Hirnfutter aus erster Hand verschaffen – bei Berger, der 1977 nach einem Londonurlaub für ein paar Wochen als Punk posiert hatte. Doch der winkte ab: »Ich war nur ein Modepunk, vergiss es!«

Dann wühlte er in seinem Kleiderschrank und zog eine Lederjacke hervor. »Das Ding habe ich damals getragen. Kannst du haben!«

Stolz wie Oskar marschierte ich mit Juppe und Strubbelkopf heimwärts und machte einige Umwege, um mein Schaulaufen auszukosten. Bis ich in der Straßenbahn auf die Schnauze bekam. Von irgendeinem dahergelaufenen Typen, der sein Mütchen an mir kühlen wollte. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber es hielt mich auch nicht auf.

 

Die Faustschläge waren der Beweis, dass ich kein Niemand mehr war. Die Arschlöcher erkannten mich als jemanden, der auf der anderen Seite stand. Ich war jetzt ein PUNK! Im Spiegel erblickte ich nicht länger Peter Parker, sondern Spider-Man. Peter, der Schisser, löste sich innerhalb weniger Monate in Luft auf, die Brille verschwand in der Schublade. Ich bekam einen Punk-Namen und hieß nun Nagel, weil ich einen stählernen, massiven Zimmermannsnagel um den Hals trug.

Ich wurde nicht nur geschlagen, sondern auch geküsst und gevögelt. Schnippelte und färbte Punk-Frisuren zurecht, hatte Ärger mit Polizei und Gericht, lernte Zellen von innen kennen, meine Bude wurde bei einer Hausdurchsuchung durchwühlt. Ich ernährte mich von Unox-Gulaschsuppen, Käsebroten und Currywürsten, nahm 13 Kilo ab und war endlich im wahren Leben angekommen!

Die Anarchie fand nicht länger in langhaarigen Diskussionsrunden in graubraunen Ökoklamotten statt, mit Perspektiven auf ein Paradies in ferner Zukunft, stattdessen bunt, auf der Straße, jetzt. Praktiziert von Leuten, die von Polit-Theorie keinen blassen Schimmer hatten, sondern Bierflaschen zersplittern ließen. Anarchie machen hieß das.

In Düsseldorf eroberten Punks ein besetztes Haus von der Polizei zurück, und in der tageszeitung erschien ein Foto, das für mich und viele andere zur Straßenkämpfer-Ikone schlechthin wurde: ein Punk in voller Montur, mit Sturmhaube und Leopardenhose, in stolzer, unbeugsamer Pose mit verschränkten Armen.

Am liebsten wäre ich nur noch in Sturmhaube durch Wuppertal gezogen, allzeit bereit für den Krieg in den Städten. Genau das war es, was ich wollte: KRIEG! KRIEG! KRIEG!

Allerdings keinen, bei dem das Blut in Strömen floß. In meiner Vorstellung spielten sich eher Szenen aus Marvel-Comics und Godzilla-Filmen ab. Da ging auch einiges kaputt, ohne dass irgendwer ’ne Schramme abbekam.

 

Als ich mich im September 1981 entschied, den Job zu schmeißen, um in einer Schundheftchenserie namens Punk zu leben, wollte ich damit jede Anforderung der Welt, ihr einen zu blasen (und ihr zu erlauben, es mir zu besorgen!) über Bord werfen. Lieber wollte ich mein Leben neu erfinden.

Und die Dinge entwickelten sich ja prächtig, sie überschlugen sich geradezu: Mein Job war Geschichte, Berger hatte mir seine Lederjacke überlassen, ich trug eine Stachelfrisur, hatte auf die Fresse bekommen – ein vielversprechender Anfang für mein Leben als neugeborener Punk!

Nun mag die Welt in sechs Tagen geschaffen worden sein, aber bis mein Ausbruch sich zu einem ausgesprochenen Rausch entwickeln sollte, dauerte es eine Weile. Ich fing auch als Punk klein an.

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