Nr. 22

Das letzte Asyl

aus »Schlund«, 2018

Endlich war der Groschen gefallen. Ich begriff, dass ich nicht mehr jung war. Nachdem mein Mitbewohner mit einem Baseballschläger auf mich eingeprügelt hatte, weil ich gegen alle Absprachen nicht abwaschen wollte, zog ich es vor, allein zu wohnen. Nur ich mit mir, Dreck, Chaos und Ordnung, wie es gerade passte, und keine Rechtfertigungen mehr für irgendwas.

Ich war 32, der Lack ab, die Haare eine Trümmerwüste mit Aussicht auf Schlimmeres. Clear Yourself, die Band, in der ich sang, hatte sich vor einigen Monaten aufgelöst, die Punks meiner Generation waren Richtung Studium oder Beruf abgetaucht – oder suhlten sich als Alk- und Drogenzombies in der Gosse. Mit dem Nachwuchs hatte ich wenig zu tun.

Punk, Rebellion, Musik – alles vorbei? Ich stand im Nichts. Nicht zum ersten Mal, nicht zum letzten Mal. Und überlegte, Hannover zu verlassen, wohin mich elf Jahre zuvor der Zivildienst verschlagen hatte.

Andere machen erst mal ein Bier auf, wenn sie derart zerschmettert am Boden liegen. Oder gleich mehrere. Ich dagegen ging zum Hauptbahnhof und setzte mich zu den Suffpunks. Das hatte ich ewig nicht mehr getan.

Ich sah ihnen beim Trinken zu, tagelang, wochenlang. Sie hingen an Bier und Korn, während ich an einer Wasserflasche nuckelte.

Wir hockten zusammen, doch saß jeder für sich auf der Bahnhofstreppe. Eingeschlossen in seiner Welt, in einem ganz persönlichen Bunker, aus dem es kein Entrinnen gab. Wir waren allesamt Verlierer. Die Asi-Punks genauso wie die Aktentaschen und Einkaufstüten, die die City rauf- und runterwieselten. Ich wusste, dass das auch für mich galt, und nicht erst seit heute.

Deshalb hatte mich Punk ursprünglich angezogen: Ich brauchte keine Freunde, keine Gang, in der alle den gleichen Mist erzählten und sich für Überflieger hielten. Wollte mir von niemandem erzählen lassen, was für mich das Beste war, und hing stattdessen lieber mit Leuten ab, die auf unterschiedliche oder sogar entgegengesetzte Weise die Welt nicht verstanden: Künstler, Prolls, Kommunisten und Anarchisten, Pazifisten und Schläger, SM- und NS-Fetischisten, Heim- und Straßenkinder, Nerds, Asis, Studenten, Homos, Drogensüchtige, Feministinnen, Hausbesetzer, Trinker, Musiker, mit oder ohne Kohle – jeder durfte nach Belieben scheitern oder am Scheitern scheitern, das war unsere Gemeinsamkeit und unsere Freiheit.

Dass immer mehr Leute im Laufe der Zeit der Freiheit misstrauten und eine für jeden gültige Definition von Punk verhängten, ihn damit kastrierten, stellte sich als fatal heraus. Und als ebenso unausweichlich.

Zuhause fiel mir eines Tages auf, dass die Wohnung meinem Gehirn erstaunlich ähnelte: stapelweise Comics und Science-Fiction-Romane. Punkfotos und Zeitungsausschnitte aus besseren Zeiten. Platten mit Musik, die mir etwas bedeutete. An der Wand ein Poster mit Alice Cooper am Galgen. Eine zugemüllte Küche. Im Bett ein vollgewichstes Taschentuch. Das Sofa ebenso benutzt, verranzt und siffig wie der Rest der Bude. Der Bunker, in dem ich lebte. Wo mir niemand auf den Sack ging.

Ich bückte mich und hob ein Perry-Rhodan-Heft vom Boden auf, das vor ein paar Wochen vom Tisch gerutscht war. Band 597, »Das letzte Asyl«.

Genau das war’s! Mein Ausbruchsversuch via Punk war nach Jahren dort gelandet, wo er begonnen hatte: im Bunker! Hier blieb mir nur, die Welt zu beobachten. Zu begreifen, wie im Leben alles willkürlich durcheinanderpurzelte und ich keine Chance hatte, die innere Logik der Dinge zu verstehen.

Es schien mein Karma zu sein, im Bunker zu leben, in einer »Phantomzone« – dem hyperdimensionalen Gefängnis aus den Superman-Comics, wo gemeingefährliche Verbrecher und andere Gegner des Stählernen einsaßen und auf eine Ausbruchsgelegenheit warteten. So wie ich. Dass mein nächster Ausbruch mich nach Hamburg führen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Auf die täglichen Missionsversuche der Überzeugungstäter aller Art hingegen hatte ich eine Antwort: »Deine Meinung ist mir scheißegal!« Ich kam ja nicht mal mit meiner eigenen klar.

Blut+Eisen waren bereits Mitte der 80er weiter: »Wir suchten in der Hölle und auch beim Papst im Bett. Wir gingen durch die Wüste, doch wir fanden NICHTS« – so schrie es in »Darf ich es wagen, das zu sagen« in just diesem Moment vom Plattenteller. Ich hätte schon einiges zu sagen gehabt – aber wer wollte denn hören, dass einem das Hirn weichgespült wurde, wenn die Psychostrahlen so lecker schmeckten? Wer schaffte es, vor dem Orgasmus einen Interruptus hinzulegen?

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